Der polnische 4. Juni konkurriert mit dem deutschen 9. November

Deutsch-polnischer Wettstreit um historisches Andenken

An wen denkt das Ausland beim Sturz des Kommunismus: An die Polen oder die Deutschen? Die Regierungen beider Länder dementieren zwar einen Wettstreit um die internationale Aufmerksamkeit für ihre 20-Jahr-Feiern der friedlichen Revolutionen von 1989. Aber in Warschau sorgt sich nicht nur die Presse, dass der Jahrestag der ersten halbfreien polnischen Parlamentswahl vom 4. Juni 1989 weniger beachtet wird als der 20. Jahrestag des Falls der Berliner Mauer am 9. November.

Autor/in:
Oliver Hinz
 (DR)

Eine Folge: Am Donnerstag werden in Polen der historische Wahlerfolg der Freiheitsbewegung Solidarnosc und die schwere Niederlage der kommunistischen Machthaber so groß gefeiert wie noch nie - und damit auch um mehr Aufmerksamkeit gebuhlt.

Es genügte ein Videoclip der EU-Kommission, um den Konflikt um das Andenken offenzulegen. Der im Internet veröffentlichte dreiminütige Spot «1989-2009 - 20 Jahre Freiheit» konzentriert sich auf Deutschland und spart den Beitrag Polens zum Ende des kommunistischen Systems fast völlig aus. Warschau intervenierte umgehend in Brüssel - freilich mit geringem Erfolg. Die EU-Kommission fügte nachträglich Aufnahmen von historischen Protestkundgebungen der Gewerkschaft Solidarnosc gegen das damalige Regime ein - jedoch nicht, wie gefordert, Bilder von Papst Johannes Paul II. (1978-2005), der den Anstoß zur politischen Wende gab und sie intensiv unterstützte. Viele Polen empörten sich auch nach der Korrektur, dass die EU ihre Vorreiterrolle beim Freiheitskampf zu wenig würdige.

Die halbfreien Wahlen waren das Ergebnis des Runden Tisches, an dem die kommunistischen Machthaber ab Februar 1989 mit der Solidarnosc verhandelten. Auf Bitten beider Seiten saß an dem Tisch als einer von zwei Vertretern der katholischen Kirche der damalige enge Vertraute von Kardinal-Primas Stefan Wyszynski (1901-1981), Pfarrer Alojzy Orszulik, der sich bereits bei einer ganzen Serie von Treffen als Vermittler bewährt hatte. «Die Regierungsseite wollte ohne geistliche Zeugen nicht mit den Gesprächen beginnen», erinnert sich der heute 80-jährige Altbischof von Lowicz. Sie sei der Meinung gewesen, der Solidarnosc-Vorsitzende Lech Walesa wechsele ständig seinen Standpunkt. Auch Walesa habe die Kirche am Tisch haben wollen, «weil er der Meinung war, die Regierungsseite lüge».

Die Kirchenvertreter sollten schlicht die Gesprächsresultate festhalten. Ihre Notizen leiteten sie auch an den Vatikan weiter.
Johannes Paul II. habe so aus erster Hand über die Wende in seinem Heimatland erfahren, erzählt Orszulik. Nach Meinung von Walesa ist der Untergang des Kommunismus zu 50 Prozent dem Papst zu verdanken, zu 30 Prozent der Solidarnosc und zu 20 Prozent anderen Faktoren.
Der Anteil der Deutschen sei dagegen eher gering: «Wir haben in Polen dem Bären die Zähne ausgeschlagen, und dieser unbissige Bär musste dann zulassen, dass Tschechen und Deutsche sich ihren Weg zur Freiheit suchen.»

Tatsächlich war der Freiheitskampf in Polen schon früh eine Massenbewegung. Bereits Ende 1980 gehörten von den 16 Millionen Arbeitern rund 10 Millionen der Solidarnosc an. Besiegelt wurde das Ende des Kommunismus dann mit den ersten halbfreien Wahlen. Die Kommunisten gewannen keinen einzigen Sitz im Oberhaus, dem Senat. 99 der 100 Sitze gingen an die Solidarnosc und einer an einen unabhängigen Kandidaten. Für das Unterhaus, den Sejm, war die Mandatsverteilung dagegen am Runden Tisch festgelegt worden. 65 Prozent der Sitze ging an die alten kommunistischen Blockparteien, der Rest an die Solidarnosc.

Kaum einer zweifelt daran, dass die Kommunisten schon damals eine totale Niederlage erlitten hätten, wären die Wahlen völlig frei gewesen. Trotzdem machte der Urnengang den Weg frei für den ersten demokratischen Ministerpräsidenten seit dem Zweiten Weltkrieg, Tadeusz Mazowiecki. Der Sejm wählte den katholischen Publizisten und Walesa-Berater am 24. August, nachdem mehrere Blockparteien ins Solidarnosc-Lager übergelaufen waren. Dieselbe Symbolwirkung wie der Fall der Berliner Mauer am 9. November hat der 4. Juni trotzdem nicht. Denn in Polen konkurrieren eine Vielzahl von Jahrestagen der damaligen Wende. Zum Jubiläum würdigt jedenfalls auch die Bundesregierung die polnische Freiheitsbewegung - mit einer Ausstellung auf zentralen Plätzen in Warschau und Danzig. Sie hat den Namen: «20 Jahre Freiheit: Deutschland sagt Danke!»