Der Kirchenhistoriker Hubert Wolf über die Affäre "Vatilkeaks"

"Früher wurden Gegner vergiftet, heute bloßgestellt"

Trotz intensiver Ermittlungen ist noch immer nicht bekannt, wer hinter "Vatileaks" steckt - der Affäre, bei der zahlreiche interne Papiere aus dem Vatikan in die Öffentlichkeit gelangten. Dass der inzwischen verhaftete päpstliche Kammerdiener von Paolo Gabriele kein Einzeltäter ist, davon ist auch der Kirchenhistoriker Hubert Wolf überzeugt. Im Interview spricht er über mögliche Hintergründe der Affäre.

 (DR)

KNA: Herr Professor Wolf, wie schwer hat "Vatileaks" das Ansehen des Vatikan erschüttert?

Wolf: Die Wirkung ist beträchtlich, ob hinter den Mauern des Kirchenstaats oder nach außen. Die Kurie hat trotz dunkler Flecken in ihrer langen Geschichte immer noch eine Vorbildfunktion. Intrigen in ihren Reihen wirken deshalb umso spektakulärer und sind ein Lieblingsthema der Medien.



KNA: Hat es Ähnliches nicht schon früher gegeben?

Wolf: Schon, aber im modernen Medienzeitalter gewinnen solche Vorgänge ein ganz anderes weltweites Gewicht - die Öffentlichkeit kann viel stärker als Waffe eingesetzt werden. Früher beschränkten sich Intrigen auf die Machtzirkel im Vatikan. Missliebige Personen wurden vielleicht manchmal vergiftet, nun werden sie bloßgestellt. Ein Prototyp von "Vatileaks" ist wohl der Fall Bafile 1973. Damals schickte der Nuntius in Bonn, Corrado Bafile, eine Empfehlung an das Staatssekretariat, den Limburger Bischof Wilhelm Kempf zum Rücktritt zu zwingen. Bafile passte nicht, dass Kempf den Laien in seinem Bistum erheblich mehr Einfluss geben wollte und für die Priesterweihe verheirateter Männer eintrat.



Ein unbekannter Mitarbeiter des Staatssekretariats empörte sich über Bafiles "sowjetische Methoden" und schickte eine Kopie des geheimen Schreibens an Kempf, der damit an die Bischofskonferenz ging. So wurde das Ganze öffentlich und warf ein grelles Licht auf die Flügelkämpfe in der Kirche nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil.



KNA: Die Tragweite von "Vatileaks" dürfte erheblich größer sein, nur die Hintergründe sind noch völlig unklar.

Wolf: Klar ist nur, dass der päpstliche Kammerdiener kaum ein Alleintäter ist. Natürlich kann es sein, dass jemand dem Papst, seinem Privatsekretär Gänswein oder - das am ehesten - Staatssekretär Bertone schaden will. Vielleicht soll der Einfluss der deutschen Kurialen insgesamt geschwächt werden, der zulasten der traditionell dominierenden Italiener im Vatikan geht. Im Mittelpunkt steht die Frage nach dem Zugang zum Papst. Vielleicht geht es auch weniger um Personen, sondern um Inhalte: Manchem geht die Annäherung Benedikts XVI. an die traditionalistische Piusbruderschaft womöglich zu weit - oder nicht weit genug. Letztlich bleibt alles Kaffeesatzleserei, bis es konkrete Ergebnisse gibt.



KNA: Halten Sie das Krisenmanagement des Vatikan denn für effektiv im Sinne der Ermittlungen?

Wolf: Der Vatikan hat gar keine andere Wahl, als den Fall so genau wie möglich vor der Öffentlichkeit aufzuklären. Denn wo Fragen bleiben, schießen neue Spekulationen ins Kraut und der Berg der Skandalliteratur wächst.



KNA: Das Enthüllungsbuch "Sua Santita" des Journalisten Gianluigi Nuzzi wurde als wichtiger Beitrag zur Aufklärung gefeiert und erscheint im September auf Deutsch.

Wolf: Das Buch hätte ich nicht mal als Proseminar-Arbeit angenommen. Da werden willkürlich geheime Dokumente aneinandergereiht, denen jede tiefere Einordnung fehlt, weil die genauen Hintergründe oft noch gar nicht bekannt sind. Damit solche Publikationen nicht so einen Erfolg haben, darf es im Vatikan keine Geheimniskrämerei geben.



KNA: Das hängt nicht zuletzt vom Willen und der Durchsetzungsfähigkeit Benedikts XVI. ab. Wie agiert der Papst in der Krise?

Wolf: Sie ist vielleicht seine größte persönliche Enttäuschung. Bedenken Sie: Ausgerechnet der Mann, der jahrelang Benedikts privaten Lebensbereich betreut, bestiehlt ihn. Das dürfte einen 85-Jährigen schwer treffen. Trotzdem macht er einen sehr entschlossenen Eindruck. Er hat größtmögliche Aufklärung zugesichert, hat eine Ermittlungskommission rund um drei altgediente Kardinäle eingesetzt, die im August einen Zwischenbericht vorlegen. Und er hat einen US-Journalisten als Kommunikationsberater installiert.



KNA: Was dafür spricht, dass in diesem Bereich vorher einiges im Argen lag. Auch das wurde ja als mögliche Ursache für die Intrige genannt. Benedikt XVI. gilt manchem als eher verschlossene Gelehrtennatur, einer der lieber Bücher schreibt, als die Weltkirche zu regieren.

Wolf: Sein Charisma in der Kurie beruht ja gerade auf seiner brillanten Theologie und Philosophie, mit der die Kirche auf der Höhe der Zeit steht. Dafür ist Benedikt kein sprühender Kommunikator wie Johannes Paul II. Der lud oft spontan Leute zum Mittagessen ein, um sich zu unterhalten. So erhielt er eine Menge Informationen zusätzlich zu den ohnehin anberaumten Gesprächsterminen. Benedikt geht viel zurückhaltender auf Menschen zu. Das heißt aber nicht, dass er sich nicht für sie interessiert.



KNA: Trotzdem: Müsste der Papst nach "Vatileaks" nicht grundsätzlich über eine Reform der Kommunikationsstrukturen in der Kurie nachdenken?

Wolf: Man darf nicht vergessen, dass Benedikt XVI. als Chef der Kongregation für die Glaubenslehre schon seit 1982 Mitglied der Kurie ist. Wer sollte sie besser kennen als er? Es wäre sicher kein Fehler, wenn sich die Präfekten der Kongregationen regelmäßig mit dem Papst beraten, aber auch untereinander austauschen würden, im Sinne von Kabinettsitzungen. Doch jeder Kardinal hat grundsätzlich sowieso Zugang zum Papst. Auf diesem Weg kann schon viel geklärt werden. In den einzelnen Kongregationen und Räten des Vatikans herrscht ohnehin eine rege und kontroverse Diskussionskultur. Da bleibt zu hoffen, dass sich das durch die ständige Gefahr anonymer Veröffentlichungen von vertraulichen Dokumenten nicht ändert.



Das Interview führte Christoph Schmidt .



Zur Person

Der Kirchenhistoriker Hubert Wolf ist Lehrstuhlinhaber an der Uni Münster und Leibniz-Preisträger. Er gilt als einer der besten Vatikankenner. Schon Jahre vor der offiziellen Öffnung des Vatikanarchivs durfte er unter anderem Archivbestände der Inquisition und päpstlichen Indexkongregation auswerten.