Der Kampf gegen Ungläubige ist keine religiöse Pflicht

Al-Kaidas Ideologie in der Kritik

"Wir lieben den Tod auf dem Weg zu Gott genauso, wie ihr das Leben liebt." So beschrieb Osama bin Laden 1997 in einem Interview den Kern seiner Dschihad-Ideologie. Darin stecken weder Ironie noch Übertreibung: Das ist für Menschen im Westen schwer nachvollziehbar. Für Muslime auf der ganzen Welt allerdings auch.

Autor/in:
Steffen Mayer
 (DR)

Asiem El-Difraoui, ein Experte für Al-Kaida bei der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), stellt klar: "Ein solcher Heiliger Krieg und sich selbst im Kampf gegen die Ungläubigen zu opfern, ist nur für eine kleine Zahl von Extremisten nachvollziehbar. Die Mehrheit lehnt diese Interpretation von Koran und Überlieferungen entschieden ab." Der Begriff Dschihad hat mehrere Bedeutungen. Osama bin Laden legte ihn extrem restriktiv aus. Für ihn war er nur ein Akt des Kampfes gegen die Ungläubigen, insbesondere die Amerikaner, die muslimische Länder besetzten und angeblich einen Krieg gegen alle Muslime führen. "Diese Interpretation von Dschihad ist schon durch Gelehrte der berühmten ägyptischen Universität Al-Azhar korrigiert worden. Dschihad müsse von wirklich gläubigen Muslimen vor allem als Anstrengung im Glauben verstanden werden, als tägliche Anstrengung, ein besserer Muslim zu werden", erklärt El-Difraoui.



Bin Laden: Zivilisten zu töten ist "Pflicht für jeden Muslim"

Osama bin Laden schrieb in seinem Aufruf der "Islamischen Weltfront für den Dschihad gegen Juden und Kreuzzügler" bereits 1998: "Die Amerikaner und ihre Alliierten, Zivilisten und Soldaten gleichermaßen zu töten, wo immer ihm dies möglich ist, ist eine individuelle Pflicht für jeden Muslim." So zitieren ihn Gilles Kepel und Jean-Pierre Milelli in ihrem Buch "Al Qaida - Texte des Terrors", aus dem auch die anderen aufgeführten Zitate aus islamistischen Texten stammen. Bin Ladens Maxime werde selbst von Predigern abgelehnt, die Dschihad in der Bedeutung von "Befreiung muslimischer Gebiete von den Ungläubigen" akzeptieren, sagt El-Difraoui. "Sie verdammen die Ermordung von Zivilisten mittels Terroranschlägen scharf, weil die Ermordung von Nicht-Kämpfern unislamisch und durch den Koran verboten ist." Andere Gelehrte verdammen jeglichen Terrorismus, wie in der sogenannten "Topkapi Erklärung" von 2006 nachzulesen ist: "Unter keinen Umständen gestattet der Islam Terrorismus und die Tötung von Zivilisten. Terrorismus ist ein Verstoß gegen die Prinzipien des Islam."



Bin Laden dagegen erklärte zum - sehr weitreichenden - Ziel, der Dschihad gegen die Ungläubigen sei Pflicht "bis die Aqsa-Moschee [in Jerusalem] und die große Moschee in Mekka von ihnen befreit sind und bis ihre Armeen das gesamte Territorium des Islam verlassen haben".



"Das ist ein eher oberflächliches ideologisches Gedankengebäude, das aber leicht nachvollziehbar war und über die Figur des charismatischen, asketischen, von den USA gejagten bin Laden wirkte. Die eigentlichen intellektuellen Vordenker des Dschihad waren andere", erläutert El-Difraoui. Bin Ladens ideologischer Ziehvater, der sogenannte "Pate des Dschihad", Abdullah Azzam, hatte in seinen vielen Schriften komplexer argumentiert. Er unterschied zwischen der kollektiven Pflicht zum offensiven Dschihad, also dem Angriff auf die Ungläubigen in ihren Ländern und der unbedingten persönlichen Verpflichtung zum defensiven Dschihad, wenn Ungläubige muslimische Länder besetzen.



In seiner grundlegenden Schrift "Die Verteidigung der muslimischen Gebiete ist die oberste Pflicht des Einzelnen" baut Azzam ein Bedrohungsszenario für die Gläubigen auf. Er schreibt, es "bleiben alle Muslime in Sünde, solange auch nur ein Land, das muslimisch gewesen ist, in den Händen der Ungläubigen bleibt." Und von Sünde kann man sich im Islam nur "durch Umkehr, in diesem Fall den Dschihad und die Vergebung durch Allah, befreien, sonst droht das endlose Fegefeuer", so El-Difraoui.



Gelehrte: Selbstmordattentate sind verboten

"Al Kaidas Ideologie schafft ein geschlossenes Weltbild, das sich auf die Schriften zahlreicher Vordenker des Dschihad zu stützen versucht und das vom derzeitigen Kopf und langjährigen Mitstreiter bin Ladens, Ayman al-Zawahiri, auch modernen Entwicklungen und den jeweiligen Reaktionen der westlichen Welt angepasst wurde," sagte El-Difraoui. Das Neue sei jedoch gewesen, dass bin Laden und al-Zawahiri den Dschihad auf die ganz Welt ausweiten wollten und dass sie Selbstmordattentate zur legitimen Hauptwaffe erklärten. "Auch der Begriff des Märtyrers wurde von Al-Kaida gekapert. Fast alle muslimischen Gelehrten erklären, dass ein Selbstmordattentäter niemals ein Märtyrer sein kann, weil der Selbstmord im Islam strikt verboten ist", so El-Difraoui.



Al-Zawahiri betonte in seiner Schrift "Ritter unter dem Banner des Propheten: "Es gibt keine andere Lösung als den Dschihad." Dabei gelte es, die "Hauptverbrecher - USA, Russland und Israel - in den Kampf zu zwingen". Sie müssten teuer bezahlen und man müsse darauf achten, "möglichst große Schäden zu verursachen und möglichst viele Menschen zu töten". Damit erreiche Al-Kaida aber nur noch eine kleine Zahl von Extremisten, so der Fachmann der SWP. "Die Mehrheit der Muslime lässt sich auch durch moderne und aktuelle Anpassungen der Al-Kaida-Ideologie, die heute eher taktische Fragen betreffen, nicht verleiten."



Die Revolutionen in der arabischen Welt gegen die autoritären Regime hätten die geringe Wirkungskraft der Al-Kaida-Ideologie aufgezeigt, so El-Difraoui. "Im Gegensatz zur Ideologie des Dschihad, die es niemals geschafft hat, Massen zu mobilisieren, haben die arabischen Revolutionäre gezeigt, dass nicht-religiöse Massenmobilisierung wesentlich mehr Erfolg hat. Somit sind die Dschihadisten vorerst zurückgedrängt."