Der Dalai Lama wird 90 Jahre alt

"Es könnte zwei Dalai Lamas geben"

Der Dalai Lama wirkt mit seinen 90 Jahren noch erstaunlich fit. Trotzdem hat China jetzt angekündigt, ähnlich wie bei der Ernennung katholischer Bischöfe, seinen Nachfolger bestimmen zu wollen. Warum fürchtet Peking die Religionen?

Autor/in:
Ina Rottscheidt
Der Dalai Lama und Michael von Brück (r.) / © Michael von Brück (privat)
Der Dalai Lama und Michael von Brück (r.) / © Michael von Brück ( privat )

DOMRADIO.DE: Der Dalai Lama begeht an diesem Sonntag seinen 90. Geburtstag. Auch in unseren westlichen Gesellschaften wenden sich Menschen dem Buddhismus zu. Was ist es, was sie dort suchen und in den Kirchen anscheinend nicht finden? 

Prof. Dr. Michael von Brück (Evangelischer Theologe, Religionswissenschaftler und langjähriger Freund des Dalai Lama): Diese Faszination beginnt schon im 19. Jahrhundert mit Schopenhauer, Nietzsche, Wagner und interessanterweise vielen Ärzten, weil der Buddhismus auch vieles über die Psychosomatik lehrt, was damals bei uns aufkam. 

Der Buddhismus übt deshalb so eine große Faszination aus, weil er eine rational nachvollziehbare Philosophie und gleichzeitig eine Meditationspraxis ist, die - im weitesten Sinne - den Geist schult. Er ist kompatibel mit den Lehren der modernen Physik und Psychologie und er ist primär eine Übungspraxis und kein Glaubenssystem, was für viele Europäer schwierig geworden ist. Allerdings kennen wir hier in Europa meist nur diese positiven Entwicklungen, aber natürlich gibt es auch im Buddhismus Gewalt und menschliches Versagen. 

Und nicht zuletzt fasziniert der Buddhismus wegen des Dalai Lama: Er ist eine unglaublich charismatische Persönlichkeit, mit einer Präsenz, einer liebevollen Ausstrahlung, gütevoller Weisheit und Humor. Obwohl er politisch machtlos ist, strahlt er doch diese Hoffnung und eine Geradlinigkeit aus, mit der sich viele Menschen identifizieren können. Diese Mischung aus Machtlosigkeit im politischen äußeren Sinne und einer ungeheuren geistigen Präsenz und Macht lässt ihn, glaube ich, über alle Kultur-, Sprach- und Religionsgrenzen hinweg so authentisch erscheinen.

Michael von Brück

"Er ist eine unglaublich charismatische Persönlichkeit, mit einer Präsenz, einer liebevollen Ausstrahlung, gütevoller Weisheit und Humor."

DOMRADIO.DE: Sie sind seit über 40 Jahren mit ihm befreundet und haben mit ihm das Buch „Wagnis und Verzicht“ geschrieben. Geht es bei Ihren Treffen ausschließlich um religiöse Themen oder sprechen Sie auch über Alltägliches? 

von Brück: Es geht viel um das Thema Religion: Er vertritt die interessante These, dass Religionen eigentlich ein Riesenproblem sind und wir besser dran wären, wenn wir eine säkulare Ethik praktizierten. Ich halte das für ungenügend, weil ich denke, wir brauchen den religiösen Impuls als Motivation, um eine Ethik kultivieren zu können, die die "Ehrfurcht vor dem Leben" – wie es Albert Schweitzer sagt - wirklich befördert. Darüber unterhalten wir uns oft. 

Dalai Lama, geistiges Oberhaupt der Tibeter / © Marijan Murat (dpa)
Dalai Lama, geistiges Oberhaupt der Tibeter / © Marijan Murat ( dpa )

Ich habe ihn vor fast 50 Jahren kennengelernt. Ich stand als junger Mann vor seiner Residenz und fragte unbekümmert, ob ich ihn treffen könnte, natürlich hatte ich keinen Termin. Ich war Student aus Ostdeutschland und das interessierte ihn, darum bekam ich eine Audienz. Er wollte wissen, wie Religion in einem kommunistischen System funktionieren kann. Ich erzählte ihm von meinen DDR-Erfahrungen, der Repression gegen Religionen, die trotzdem nicht aufhörten zu existieren und den Menschen Halt und Haltung gaben. Das interessierte ihn, denn er hatte es mit dem maoistischen Kommunismus zu tun.

Wir sprechen auch über das Verhältnis von Ideologie und Religion, über den Konflikt zwischen Tibet und China, den interreligiösen Dialog und - was für ihn immer wichtiger wird - die ökologische Transformation: Wie können wir als Menschheit eine Bewusstseinsbildung entwickeln, um überhaupt auf diesem Planeten noch leben zu können? 

Michael von Brück

"Ich stand als junger Mann vor seiner Residenz und fragte unbekümmert, ob ich ihn treffen könnte, natürlich hatte ich keinen Termin."

DOMRADIO.DE: Nun hat der Dalai Lama anlässlich seines 90. Geburtstags in einer Videobotschaft erklärt, es werde einen Nachfolger geben, d.h. die Institution des geistlichen Oberhaupts der Tibeter wird fortbestehen. Wie wird die Suche nach der Wiedergeburt des Dalai Lama ablaufen?

von Brück: Das lässt sich nur schwer in wenigen Sätzen zusammenzufassen. Wir haben zwei unterschiedliche Aspekte: Das eine ist der grundsätzliche Glaube an die Wiedergeburt. Jedes Lebewesen – egal ob Menschen oder Tiere - befindet sich in einem Kreislauf der Geburten, um sich zu vervollkommnen und dahin zu gelangen, was man im Buddhismus das "Erwachen" nennt. 

Das andere ist, dass in Tibet – und das gibt es in anderen buddhistischen Ländern so nicht - die Nachfolge der Äbte in Klöstern und der geistlichen Führer durch Wiedergeburt geregelt wird. Es wird also ein politisch definiertes Amt mit der allgemeinen Wiedergeburtsvorstellung verbunden. Im Falle des Dalai Lama ist es so: Er gilt als Wiedergeburt, als Inkarnation der Barmherzigkeit des Buddha, der schon in Indien für eine besondere Bewusstseinsqualität stand. 

Das ist nicht so furchtbar individuell gedacht, es gibt viele Inkarnationen dieses Qualitätsstromes der Barmherzigkeit. Es muss auch kein Mann sein, es könnte auch eine Frau oder ein anderes Lebewesen sein. Und es kann auch mehrere Wiedergeburten dieses einen Bewusstseinsstroms geben. 

DOMRADIO.DE: Wie wird denn der wiedergeborene Dalai Lama erkannt? 

von Brück: Das ist kompliziert und hat sich Verlauf der vergangenen Jahrhunderte herausgebildet: Der noch lebende Dalai Lama träumt oder hat Visionen, die er in einem versiegelten Brief hinterlegt, aus dem hervorgeht, in welcher Region und unter welchen Umständen der nächste Dalai Lama erscheinen wird. Nach seinem Tod wird dieser Brief geöffnet, man wartet normalerweise zwei Jahre, weil das Kind noch geboren und sprachfähig werden muss, dann schickt man Suchtrupps los. 

Diese schauen in der angedeuteten Gegend nach Kindern, die eine gewisse Wachheit und Helle zeigen und dann kommt es zu diesen berühmten Testverfahren: Dem Kind werden Gegenstände aus dem Besitz des vorherigen Dalai Lama vorgelegt und es muss sie erkennen und richtig deuten. Wenn es diese Tests besteht, wird es mitgenommen, von der tibetischen Übergangsregierung, der Exilregierung in diesem Falle, bestätigt und in besonderer Weise in einem Kloster erzogen. 

Michael von Brück

"Der noch lebende Dalai Lama träumt oder hat Visionen, die er in einem versiegelten Brief hinterlegt, aus dem hervorgeht, in welcher Region und unter welchen Umständen der nächste Dalai Lama erscheinen wird."

DOMRADIO.DE: Nun hat China angekündigt, in dieses Prozedere einzugreifen, der nächste Dalai Lama müsse zudem durch die Zentralregierung genehmigt werden. Ist es nicht anmaßend oder fast schon skurril, dass Peking bei dieser Wiedergeburt mitbestimmen will? 

von Brück: Das ist wirklich komplex und die ganze Situation in Tibet, die Unterdrückung der Menschen und der Kultur, ist so tragisch, dass es mir das Herz zerreißt. Der Dalai Lama versucht seit Jahrzehnten mit einer Philosophie und Praxis der Gewaltlosigkeit, den Konflikt zu lösen. Aber die chinesische Regierung betrachtet ihn als "Spalter" und das ist unzutreffend, das Gegenteil ist der Fall. Wirklich tragisch.

Dazu muss man folgendes wissen: China ist seit über 2.500 Jahren ein Riesenreich aus unterschiedlichen Ethnien und Religionen. Das zusammenzuhalten ist ungeheuer schwer und es gab immer wieder Aufstände an der Peripherie. Darum hat man einen Zentralstaat aufgebaut mit dem Kaiser an der Spitze. Der heutige Präsident Xi Jinping und das Machtmonopol der Kommunistischen Partei sind praktisch eine Fortführung dieser zentralistischen Tradition. 

Die Kämpfe zwischen Zentrum und Peripherie betreffen nicht ausschließlich Tibet, aber Tibet vor allem, weil es sich um eine starke alte Kultur handelt. Vor dem Hintergrund der europäischen Kolonialgeschichte und des Zerfalls der Sowjetunion setzt man in Peking erst recht und unbeirrt auf eine zentralistische Politik. Auch ist Tibet ein Spielball der Großmächte gewesen, nämlich Russland im Norden und Großbritannien im Süden von Indien her. Die Lage ist also äußerst komplex und der Dalai Lama weiß das: Er ist keineswegs naiv, sondern er ist außerordentlich gebildet. Und er ist heute mehr denn je überzeugt: Gerade angesichts der Kriege in der Ukraine und im Nahen Osten geht es nur mit Gewaltfreiheit und Verhandlungen. 

Dafür braucht es Vernunft, aber eben auch – und das ist nun spezifisch für die buddhistische Grundhaltung des Dalai Lama - die emotionale Bereitschaft, die Kontrolle der Gefühle und Macht-Gelüste, der Ich-Ansprüche usw., die letztlich aus Angst und Schwäche resultieren. Dazu dient die spirituelle Praxis. Der Dalai Lama ist überzeugt: Nur wenn wir diese spirituelle Praxis pflegen, und zwar nicht nur Einzelne in Meditationszentren, sondern auch die Politiker und Wirtschaftskapitäne unserer Welt, dann haben wir als Menschheit eine Chance zu überleben. Das ist seine große Botschaft der Hoffnung. 

DOMRADIO.DE: Aber was fürchtet China daran so sehr? Oder ist es ein generelles Misstrauen gegenüber Religion, denn bei der Ernennung katholischer Bischöfe in China bestimmt auch Peking und nicht der Vatikan. 

von Brück: Wenn in China eine Religion Selbstständigkeit beansprucht, die nicht unter der Kontrolle der Zentralregierung steht, dann wird sie verfolgt. Das ist nicht neu, das gab es bereits während der Tang-Zeit, der Blütezeit des Buddhismus in China zwischen dem 7. bis 9. Jahrhundert: Es gab brutale Verfolgungen, weil den Kaisern die Klöster und religiösen Institutionen zu stark und unabhängig wurden. 

So verhält es sich auch mit dem Dalai Lama. Ich vermute, Peking will ein Exempel statuieren, denn diese Verfolgung der Tibeter und die Diffamierung des Dalai Lama als "Staatsfeind Nummer 1" hat keine Basis in dem, was er sagt und tut. Aber man will zeigen: Wir sind die Herren im Land und das wird so bleiben. China hat Angst vor interner Pluralität und dem Zerfall des multiethnischen Staatsgebildes.

DOMRADIO.DE: Das heißt, es könnte künftig auch zwei Dalai Lamas geben so, wie es in China die staatstreue katholische Kirche und eine vatikan-treue Untergrundkirche gibt?

von Brück: Das wäre ein denkbares Szenario, nur dass in diesem Fall die Untergrundkirche praktisch territorial im Exil ausgelagert wäre. Denn dass man innerhalb des Staates eine eigenständige Entwicklung initiieren könnte, halte ich für ausgeschlossen.

Michael von Brück

"Darum ist es denkbar, dass die Chinesen ihren eigenen Kandidaten einsetzen und es dann zwei Dalai Lamas gibt." 

Der Dalai Lama hatte in der Vergangenheit mehrfach angedeutet, dass er angesichts der politischen Verhältnisse, wie sie in China herrschen, der letzte Dalai Lama sein könnte. Jetzt hat er deutlich gemacht, dass diese Institution fortgesetzt wird, und zwar so, dass diese Qualität der Barmherzigkeit im Zentrum steht und keine politischen Grenzen kennt. Natürlich provoziert das politische Schwierigkeiten mit China, das weiß er. Darum ist es denkbar, dass die Chinesen ihren eigenen Kandidaten einsetzen und es dann zwei Dalai Lamas gibt. Theoretisch - vom Grundgebäude des tibetischen Buddhismus her – wäre das kein weltanschaulich-religiöses Problem. Aber es wird ein politisches Problem. 

Das Interview führte Ina Rottscheidt.

Buddhismus

Der Buddhismus ist eine der großen Weltreligionen; geschätzt sind 450 Millionen Menschen Buddhisten. Von sogenannten Glaubensreligionen wie dem Christentum, Judentum oder Islam unterscheidet sich Buddhas Lehre: Es handelt sich um eine Erfahrungsreligion, eine "Lehre des Geistes", wie auch der Hinduismus, Daoismus und Konfuzianismus. Im Mittelpunkt stehen philosophisch-logische Leitlinien als Basis zur Lebensführung. Der Buddhismus umfasst eine philosophische Lehre, ein Klosterwesen, verschiedene Religionsgemeinschaften und einfache Volksfrömmigkeit.

Garten des Buddhismus / © Heike Sicconi (DR)
Garten des Buddhismus / © Heike Sicconi ( DR )
Quelle:
DR

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