DOMRADIO.DE: Für immer mehr Menschen wird Religion unwichtig, sagen Sie. Aber stimmt das auch? Es gibt aktuelle Studien, die belegen, dass sich wieder mehr Menschen in Frankreich taufen lassen oder dass der Gottesdienstbesuch in den USA wieder zunimmt.
Prof. Jan Loffeld (Professor für Praktische Theologie in Utrecht): Da muss man aufpassen, dass man nicht einzelne Zahlen mit Zahlen verwechselt, die wir gerade in Deutschland seit 75 Jahren über lange Zeiträume messen und die den kontinuierlichen Rückgang über einen langen Zeitraum belegen.

Daneben gibt es tatsächlich auch neuere Hinweise darauf, dass es in anderen Ländern wie in Frankreich aber auch in den Niederlanden eine höhere Unbefangenheit gegenüber Religion gibt. Die Generation Z zeigt sich gegenüber Kirche und Glauben unbefangener. Aber da würde ich das alte deutsche Sprichwort bemühen: Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer.
Ich möchte diese Phänomene nicht kleinreden, ich finde das hochinteressant, auch für unsere wissenschaftliche Forschung. Interessanterweise zeigen sich diese Phänomene in vielen westlichen Ländern derzeit in unterschiedlicher Quantität, aber in Deutschland immer noch am geringsten.
DOMRADIO.DE: Sie sagen also, dass langfristig gesehen für immer mehr Menschen Religion unwichtig wird. Weiter stellen Sie fest, dass die Kirchen den Verlust Gottes verdrängen. Woran macht Sie das denn fest?
Loffeld: Meine Kollegin aus dem Pastoral-Team, in dem ich arbeite, bringt das immer in dieses schöne Bild von den Kulissen der TV-Serie Lindenstraße. Die Fassade stimmt, die sieht nach außen toll aus. Aber wenn man hinter die Fassaden guckt, wenn man ins Haus hineingeht, dann ist da wenig Substanz und wenig, wo man auch drin wohnen könnte.
Was ich damit sagen will, ist, wir haben natürlich noch nie so eine hohe Institutionalisierung des Glaubens gehabt wie jetzt. Das ist auch etwas ganz Einzigartiges in der deutschen Nachkriegszeit. Wir haben noch nie so viele super ausgebildete Seelsorgerinnen und Seelsorge gehabt, so gut organisierten Religionsunterricht in den Schulen und all das.
Aber wenn man danach fragt, wie viele Leute an einem personalen Gott glauben, dann ist die positive Antwort auf diese Frage von 90 Prozent in den 50er Jahren auf heute 20 Prozent gesunken. Gerade diese
Frage ist für Religionssoziologen ganz wichtig, weil der personale Gott der ist, der die höchste Verbindlichkeit hat. Mit dem kann ich in einer Beziehung leben. Der hat auch die höchste Säkularisierungsresistenz, denn wenn ich mit jemandem in Beziehung lebe, dann muss schon viel passieren, um diese Beziehung aufzugeben.
Deshalb finde ich dieses Bild von der Lindenstraße ganz schön, dass es noch institutionalisiert viel Kirche gibt, wo auch viele gute Dinge passieren, aber wenn man hinter die Fassade schaut, dann sind solche religionssoziologischen Markerwerte entscheidend. Denn da sind wir uns doch einig, dass der Glaube an Gott immer noch das Zentrale in der Kirche ist. Und da sieht es häufig anders aus, als es nach außen hin wirkt.
DOMRADIO.DE: Es ist sehr wahrscheinlich, dass Gott mehrheitlich auch künftig nicht vermisst wird, sagen Sie. Was bedeutet das denn für den Fortgang der Geschichte?
Loffeld: Das wissen wir nicht. Es gibt natürlich immer Unkenrufe, die dann sagen, was wird dann aus dem christliche geprägten Wertekorsett der Gesellschaft, wie geht es weiter mit der Menschenwürde? Und das muss man auch gut im Blick behalten. Aber ehrlich gesagt, wissen wir nicht, was der Verlust Gottes in der Gesellschaft historisch bedeutet. Die letzte Studie, die im April herausgekommen ist in den Niederlanden, die seit den 60er Jahren untersucht, wie es mit dem Gottesglauben im Land steht, sagt, dass der soziale Zusammenhalt zumindest in den Niederlanden von anderen säkularen Institutionen übernommen wird, wie Nachbarschaften, Sportvereine, Jugendclubs usw. .
DOMRADIO.DE: Und wer heute die Kirche verlässt, konvertiert häufig zur Esoterik oder zum konsumistischen, ideenlosen Materialismus. Kann der Mensch daraus denn Sinn und auch nachhaltigen Trost in Krisensituationen schöpfen?
Loffeld: Ich würde ihre Aussage erst mal bezweifeln. Wir haben in einer Untersuchung festgestellt, dass die Bedeutung der Esoterik sehr gering geworden ist. Und den ideenlosen Konsummaterialismus so in den Mittelpunkt der Kritik zu stellen, finde ich sehr moralinsauer. Viele Leute finden in anderen Dingen, zum Beispiel im Charity-Bereich, der eben nicht kirchlich ist, aber auch im ehrenamtlichen Engagement für andere ihre Erfüllung und Sinn und das haben wir erst mal anzuerkennen und nicht zu sagen, das ist alles Absurdistan oder das ist alles vom Bösen, sondern dass da das Humanum an sich sehr viel Gutes birgt und das gilt es anzuerkennen, und sich darin konstruktiv zu verorten.
DOMRADIO.DE: Indifferenz und Säkularisierungsphänomene bedeuten eine der größten Herausforderungen für das Christentum, sagen Sie. Was sind das für Herausforderungen?
Loffeld: Es ist die Herausforderung, dass Christen keine Monopolanbieterinnen für den Sinn und für Lebensfragen sind. Und da müssen Christen ihren "Unique Selling Point" ganz neu lernen, ins Gespräch zu bringen, also sich neu mit dem, was das Besondere unseres Angebotes ist, was es nirgendwo anders gibt, das neu ins Gespräch und ins Spiel zu bringen. Wir dürfen uns nicht mehr darauf verlassen, dass es eine christliche Kultur gibt, die das von selber in die nächste Generation überträgt.
DOMRADIO.DE: Und was ist das Besondere?
Loffeld: Das Besondere ist, dass Gott sich in Jesus Christus zu erkennen gegeben hat und die Welt erlöst hat. Und das finde ich immer noch das Interessanteste, was wir Ostern feiern, dass der Tod und das Böse nicht das letzte Wort haben werden. Und das kann man gar nicht anders beantworten als mit Gott. Offenbar ist es aber so, dass Menschen das anders für sich beantworten und in diesen Pluralismus von Lebensentwürfen hinein dürfen, müssen und können wir zeigen, was es bedeutet, mit Gott zu leben und vielleicht auch, was es dann bedeutet, ohne ihn zu leben.
DOMRADIO.DE: Aber diese Strategie versuchen ja auch herkömmliche theologische, kirchliche und pastorale Strategien in die Gesellschaft zu tragen. Trotzdem behaupten Sie, dass diese Strategien, die den Relevanzverlust abbremsen möchten, weitestgehend ins Leere laufen.
Loffeld: Sie haben es jedenfalls nicht vermocht, den Relevanzverlust des Glaubens aufzuhalten. Und ich glaube, es gibt auch keine fertige Strategie, die das kann, sondern wir sind als Kirche darauf angewiesen, uns dahin zu bekehren, dass Gott derjenige ist, der den Glauben schenkt, dass wir sozusagen alles tun dürfen und sollten, um Menschen zu ermöglichen, Gott zu treffen, aber ob er wirklich ins Herz geht, ob er zu einem Lebensprogramm wird mit seinem Evangelium, das müssen wir ihnen überlassen. Das ist eine der großen Lernerfahrungen unserer Zeit, dass wir es eben nicht selbst machen können.
DOMRADIO.DE: Es gibt Kritiker Ihres Buches, die sagen, na ja, Sie beschreiben das als vorsichtiges Tasten. Das bleibe jetzt aber sehr abstrakt und vage und eine konkrete Bearbeitung der Krise fehle bei Ihnen.
Loffeld: Ich bin ja selber auch Seelsorger und ich merke, dass ganz viele Menschen, wenn man mit fertigen Konzepten in der Seelsorge kommt, abwinken, weil sie jede Konzeptgläubigkeit verloren haben. Sie sagen dann, jetzt wird wieder eine neue Sau durchs Dorf getrieben und jetzt müssen wir es so und so machen. Wir wissen doch, dass alle Konzepte, die wir bis jetzt hatten oder alle Pastoralprogramme, die die Bistümer uns auferlegt haben, alle Visionsprozesse, all diese Dinge, dass die sich im Alltäglichen nicht ausgezahlt oder als realistisch erwiesen haben.
Deshalb halte ich mich eben zurück mit solchen Konzeptentwürfen, die sich eins zu eins in jede Praxis übertragen lassen, und die Praxen sind ja auch sehr, sehr divers. Ich halte mich damit zurück und versuche denkerisch oder auch geistlich einige Anregungen ganz unterschiedlicher Art zu geben, die die Leute dann für sich und ihr pastorales Handeln übersetzen können. Das Konzept oder den Plan müssen sie dann mit diesen Anregungen selber machen.
DOMRADIO.DE: Aber da gibt es doch schon viele ganz unterschiedliche pastorale Versuche. Es gibt Pop-Up-Taufen, die von der evangelischen Kirche angeboten werden. Dann gibt es in Köln demnächst das Glaubensfestival "Kommt & Seht". Also es gibt da doch eine breite Palette von pastoralen Angeboten.
Loffeld: Genau, damit sollte man in keiner Weise aufhören. Man sollte experimentieren auf verschiedensten Ebenen. Nur man sollte das Erwartungsmanagement schon auch sehr realistisch orientieren, damit Leute eben nicht in die Frustration hineinlaufen. Ein Beispiel dafür ist der Weltjugendtag 2005 in Köln, den ich selbst miterlebt habe. Wir dachten, jetzt wird die Welt wieder katholisch. Da gab es danach viele Initiativen, wo man dachte, jetzt geht's wieder los. Aber das Gegenteil war der Fall.
DOMRADIO.DE: Sie schreiben, und das klingt ja auf den ersten Eindruck etwas numinos, dass sich das Evangelium schon seine eigenen Wege suchen wird. Wie meinen Sie das denn?
Loffeld: Das glaube ich ganz sicher, dass das Evangelium natürlich auch mit unserer Hilfe seine eigenen Wege finden wird. Das erlebe ich zum Beispiel in den Niederlanden, an unseren Studierenden, die oft aus ganz säkularen Verhältnissen kommen und sich für Religion und Theologie interessieren, obwohl sie schon in der zweiten und dritten Generation aus einer Familie kommen, die das überhaupt nicht für sich wichtig fand.
Und ich kann es auch aus meinem eigenen Leben sagen, mit vielen Leuten, mit denen ich zusammen den Glauben geteilt habe. Da sind Dinge passiert, die niemand gemacht hat, die aber sich ereignet haben und an denen ich am meisten sehe, dass da etwas lebt, auch unabhängig von unserer Fantasie von Machbarkeit und pastoraler Konzeption und so weiter.
DOMRADIO.DE: Also fasse ich das richtig zusammen, wenn ich daraus höre, wir müssen einfach den Himmel offenhalten und Möglichkeitsräume, Resonanzräume schaffen?
Loffeld: Das tun und gleichzeitig immer darauf vertrauen, dass der liebe Gott noch ganz andere Wege und viel größere, vielleicht auch noch bessere kennt als wir. Wir müssen aber auch sehen und schätzen, dass da unabhängig von unserem Tun viel passiert. Und gleichzeitig, das ist dann eben die etwas komplexere Argumentation, nichts unversucht lassen, das Evangelium auch anzubieten.
Das Interview führte Johannes Schröer.