DOMRADIO.DE: Wie stellen Sie sich Gott vor, und wann wird er für Sie erfahrbar?
Brian Müschenborn (Theologe und Bestatter in Köln): Gott ist für mich keine ferne Idee, sondern eine Gegenwart, die trägt – manchmal leise, manchmal spürbar wie ein kräftiger Wellenschlag. Ich mag den Satz von Bischof Kamphaus: "Was hast du Angst vor dem Untergehen, wenn Gott das Meer ist?" Dieses Bild begleitet mich seit Jahren. Es sagt mir: Auch wenn ich mich verliere, bin ich in Gott nicht verloren. Gott ist für mich wie das Meer und mein Glaube der Anker, der mich hält.
Ein solcher Glaube wächst nicht über Nacht. Er entsteht aus Erfahrung, aus Begegnung, aus einer Art seelischer Prägung, die man nicht einfach lernen kann. Ich sage oft: Glaube ist wie Muttermilch – er wird einem mitgegeben als Urvertrauen, dass man nicht fallen gelassen wird, selbst wenn man selbst keine Hoffnung mehr hat.
Und dieses Vertrauen lässt sich nicht anlesen. Es ist etwas, das in einem lebt – eine Ahnung, dass wir mit offenen Armen empfangen werden, dass da jemand ist, der hält, wenn man selbst nichts mehr halten kann.
DOMRADIO.DE: Gab es schon Situationen, in denen Sie mit Gott gehadert oder Ihren Glauben infrage gestellt haben? Und wenn ja, was hat Ihnen da geholfen?
Müschenborn: Natürlich. Wer glaubt, wird auch zweifeln. Sonst wäre der Glaube belanglos. Ich komme immer wieder an Grenzen des Verstehens. Ich erinnere mich an Beerdigungen, bei denen ich fassungslos dastand – wenn etwa ein Kind im Kommunionanzug im Gartenpool ertrunken ist. Da fragt man sich: Wie kann das sein? Und wenn ich in solchen Momenten nicht mit Gott hadern würde, wäre ich – ehrlich gesagt – ein unerträglich unempfindsamer Mensch.
Ich nehme diesen Gott ernst genug, um ihm etwas zuzumuten. Es gibt ein Buch mit dem Titel "Nicht mit Gott zu hadern, wäre gotteslästerlich". Das trifft es sehr gut. Glaube heißt für mich eben nicht, alles zu verstehen, sondern auch das Unbegreifliche in Beziehung zu halten – mit all meiner Wut, meiner Trauer, meiner Sprachlosigkeit. Der Apostel Thomas war nicht ungläubig, er war zweifelnd. Und manchmal bekomme ich eben keine Antworten. Dann bleibt nur die eigene Ratio, die versucht, Sinn zu stiften, um über Wasser zu bleiben. Und vielleicht ist es dann genau der Geist Gottes, der einem hilft, diese Vernunft zu nähren – damit man weitermachen kann, ohne zu verbittern. Im Verstand begegnet mir dann Gott, nicht im Gefühl der Ohnmacht.
Ich erinnere mich an einen Priester, der einmal bei einer Familie war, deren Sohn gerade gestorben war. Er saß nur schweigend da. Später sagte die Mutter ganz drastisch zu ihm: "Hätten Sie ein Wort gesagt, ich hätte Ihnen eine geknallt." Diese Geschichte hat mich tief bewegt. Sie zeigt, dass echtes Mitfühlen manchmal im Schweigen geschieht. Trost entsteht nicht durch Worte, sondern durch Dasein. Wie bei Johannes und Maria unterm Kreuz. Da helfen dann keine frommen Sprüche wie "Junge, du schaffst das". Da hilft nur Anwesenheit.
DOMRADIO.DE: Den Abschied von einem geliebten Menschen würdevoll zu gestalten, ist Ihr Anspruch als Bestatter. Sie bleiben dabei weltanschaulich offen. Färbt Ihr eigener Glaube, zu dem die Perspektive der christlichen Hoffnung auf Auferstehung gehört, dabei nicht automatisch manchmal ab?
Müschenborn: Mein Glaube fließt immer ein – aber nicht als Dogma, sondern als Haltung, die ich in einem Dialog des Johannes-Evangeliums wiederfinde: "Herr, wo wohnst du? Komm und sieh!"
Ich begegne den Menschen mit Respekt, Wärme und Achtsamkeit. Das ist für mich zutiefst christlich, auch wenn ich in vielen Gesprächen gar nicht über Religion spreche. Trotzdem sehe ich meinen Beruf als eine Form gelebter Seelsorge. Dabei leitet mich der Satz "Jeder Mensch ist einzigartig – in seinem Leben, aber auch in seinem Sterben"; das ist für mich kein Werbeslogan, sondern ein Glaubensbekenntnis. In jeder Trauerfeier steckt die Würde eines Lebens und die Sehnsucht derer, die zurückbleiben. Wenn ich dazwischenstehen darf – als einer, der begleitet, ohne zu belehren – dann ist das für mich Spiritualität im Alltag. Martin Buber hat einmal gesagt: "Das Ich wird am Du zum Ich." Dieser Gedanke prägt mein Tun zutiefst. In der Begegnung mit dem anderen, gerade im Schmerz, geschieht etwas Heiliges.
Ich bin kein Priester, aber ich stehe jeden Tag an der Grenze zwischen Leben und Tod, der "Eucharistie unserer Existenz", ganz nah dran und doch noch nicht drin (im Eschaton). Hier wird Glaube für mich konkret – nicht als fertige Antwort, sondern als Gewissheit. Sie ist mehr als Glauben, weniger als Wissen, aber sie trägt. Und sie verwandelt selbst das Dunkel in eine Ahnung von Licht.
DOMRADIO.DE: Wie sehr wirkt sich das, was Sie tun, auf Ihren Glauben aus? Und umgekehrt: Wie notwendig ist der Glaube für Ihr eigenes Selbstverständnis, aber auch für Ihr Wirken innerhalb der Gesellschaft, in der Sie mit Ihrer Profession einen unverzichtbaren Dienst verrichten?
Müschenborn: Beides durchdringt sich. Die tägliche Begegnung mit Endlichkeit macht mich achtsam. Sie lehrt mich, wie kostbar Beziehungen sind, wie tief Liebe reicht. Und sie lässt mich spüren, dass es mehr geben muss als das, was sichtbar ist.
Ich glaube an eine Fortdauer des Lebens – nicht im Sinne eines konkreten Himmelsbildes, sondern als bleibende Beziehung. Wenn wir jemanden verlieren, verliert auch ein Teil von uns selbst den Halt. Doch in Erinnerung, Liebe und Dankbarkeit lebt etwas weiter.
Mein Glaube schützt mich davor, zynisch zu werden. Er hält mich in Bewegung – wie ein Anker im Meer. Und manchmal, wenn ich selbst nicht mehr weiß, wo oben und unten ist, hilft mir dieser Gedanke: Ich kann nicht tiefer fallen als in Gottes Hand.
Das Interview führte Beatrice Tomasetti.