China und Indien suchen ihre Rolle in der Welt

Zwischen Armut und Reichtum

China und Indien sind die beiden größten Nationen der Erde. Zusammen 2,5 Milliarden Einwohnern suchen ihre neue Rolle in der Welt. In der globalen Wirtschaftskrise wuchs ihr internationales Gewicht. Als kommende Großmächte gefürchtet, werden China und Indien zugleich mehr und mehr gefordert, stärker Verantwortung zu übernehmen. Doch die Unterschiede sind groß.

Autor/in:
Kristin Kupfer und Agnes Tandler
 (DR)

Perfekt hatte die chinesische Führung die Feiern zum 60. Gründungstag der Volksrepublik am 1. Oktober inszeniert: Für blauen Himmel sorgten Wetterraketen, für schnurgerade marschierende Soldaten ein schier unerschöpfliches Budget. Einzig Staats- und Parteichef Hu Jintao wirkte angespannt. "Anstrengende Arbeit, Genossen", rief er den Soldaten bei der Abnahme der Parade zu.

Das Jahr 2009 hat der chinesischen Führung gezeigt, wie schwierig die Wahrung der eigenen Stabilität ist. Im Juli hatten Unruhen die Region Xingjiang erschüttert. Bei Zusammenstößen zwischen Angehörigen der muslimischen Minderheit der Uiguren und Han-Chinesen kamen nach offiziellen Angaben fast 200 Menschen ums Leben. Wegen anhaltender Menschenrechtsverletzungen traf der Ehrengast China auf der Frankfurter Buchmesse im Oktober auf ein sehr kritisches Publikum.

"Größtes Entwicklungsland der Welt"
Unterdessen stilisiert der Westen China zum Gewinner der Wirtschaftskrise und zum Retter der Welt. Das rasche Handeln der Regierung in Peking und die vorgetragenen Wachstumszahlen machen Eindruck. Der Westen hofft auf Chinas Kooperation beim Klimaschutz und weiß, dass internationale Krisen wie im Nahen Osten oder Pandemien ohne Peking nicht zu lösen sind. Die kommunistische Führung ist zwar auf allen großen Bühnen der Welt gerne dabei und empfing einen gezwungen höflich wirkenden US-Präsidenten Barack Obama bei seinem Antrittsbesuch Mitte November. Doch die chinesischen Spitzenfunktionäre bleiben gerne unverbindlich.

Als "größtes Entwicklungsland der Welt" hat der chinesische Staatschef Hu Jintao sein Land jüngst bezeichnet. Neben manch strategischer Schein-Bescheidenheit steht dahinter das Wissen um die Schwächen des eigenen Landes. Die für 2010 erwarteten zehn Prozent Wirtschaftswachstum beruhen auf aufgeblähten staatlich dominierten Branchen wie Infrastruktur und Immobilien.

Das stark vom Export abhängige Land sieht sich einer Konsumflaute in den USA gegenüber. Die Ankurbelung der Binnennachfrage in China muss als gescheitert gelten. Steigende und unklare Kosten für Gesundheit und Bildung, horrende Wohnungspreise und wachsende Arbeitslosigkeit haben 2009 auch das Vertrauen der bislang vom Wachstum profitierenden Mittelschicht in ihre Regierung sinken lassen.

"Peking weiß, dass es viele Entwicklungen immer weniger kontrollieren kann", sagt Li Datong, ehemaliger Herausgeber der parteinahen Zeitung "China Youth Daily". Die Regierung schüre durch das Hinauszögern von grundlegenden Reformen explosive Unzufriedenheit. Neben ethnischen Spannungen erschüttern täglich örtliche Proteste das Land. "Die westliche Wahrnehmung von einem stabilen China ist reines Wunschdenken."

Indiens Bild im Westen ist widersprüchlich
Auch Indiens Bild im Westen ist widersprüchlich: Die Übernahme der insolventen Modekette Escada durch die indische "Stahlprinzessin" Megha Mittal kündet von neuem Reichtum im einstigen Armenhaus. Dabei sind die sozialen Probleme in Indien immer noch groß. Beim Pro-Kopf-Einkommen hat China Indien längst abgehängt: In China liegt es bei rund 2.700 US-Dollar, in Indien bei etwas über 900 Dollar.

Indiens Wirtschaft wächst auch deutlich langsamer als die chinesische. Im Unterschied zum autoritären Regime in China gilt Indiens föderales und demokratisches System mit einer verwirrenden Menge von Akteuren, Machtzentren und Interessen als schwerfällig, auch in der Sozialpolitik.

Nach einer Studie der christlichen Organisation "Action Aid" ist es China gelungen, zwischen 1981 und 2005 die Armut um 6,6 Prozent pro Jahr zu reduzieren. Lagen 1981 noch 84 Prozent der chinesischen Bevölkerung unter der Armutsgrenze von 1,25 US-Dollar pro Tag, so waren es 2005 noch 16 Prozent.

Gut gemeinte Regierungsprogramme versickern
Indien hingegen schnitt deutlich schlechter ab. Im gleichen Zeitraum verringerte sich der Anteil der Armen von 60 auf 42 Prozent. Selbst wenn Statistiker herausrechnen, dass Chinas Wirtschaft in dieser Zeit viel schneller wuchs als die Indiens, schneidet das Land von Mahatma Gandhi bei der Armutsbekämpfung nur halb so gut ab wie sein großer Nachbar im Nordosten.

Eine große Zahl gut gemeinter Regierungsprogramme und Essensverteilungssysteme versickern großteils im chaotischen indischen Alltag. So hat das ärmste Fünftel der Bevölkerung kaum Lebensmittelkarten, um an Reis- oder Getreidehilfen der Regierung zu kommen. Das Kastensystem und schlechte staatliche Schulen zementieren die Ungleichheit.

Dennoch feierte sich Indien wieder einmal als größte Demokratie der Welt. Im Mai 2009 durften die Inder in einem einmonatigen Wahlmarathon ein neues Parlament bestimmen. Dieses Mal haben die Wähler überraschend deutlich die regierende Kongress-Partei bestätigt - und damit wieder einmal bewiesen, dass sie unberechenbar sind.