DOMRADIO.DE: Vor vier Jahren war der Schock groß. Innerhalb weniger Tage übernahmen die Taliban die Macht in Afghanistan. Inzwischen hat sich die internationale Aufmerksamkeit weitgehend abgewandt. Die USA haben ihre Hilfen größtenteils eingestellt. Was bedeutet das für die Menschen im Land?
Parvina Tadjibaeva (Leiterin des Kabul-Büros von Caritas International): Leider heißt das für die Bevölkerung steigende Armut, wachsende Arbeitslosigkeit und eine deutlich schlechtere Versorgung mit Lebensmitteln und Medikamenten. Für Frauen kommt noch der massiv eingeschränkte Zugang zu Bildung und Arbeit hinzu sowie die Abhängigkeit von den wenigen verbliebenen Hilfsquellen.
DOMRADIO.DE: Nach der Machtübernahme gab es große Sorge, dass die Taliban die mühsam errungenen Fortschritte für Frauen und Mädchen zunichtemachen könnte. Hat sich heute - vier Jahre später - diese Befürchtung bestätigt?
Tadjibaeva: Leider ja. Weiterführende Schulen und Universitäten bleiben für Mädchen geschlossen. Berufliche Perspektiven sind drastisch eingeschränkt. Auch die Bewegungsfreiheit und öffentliche Präsenz von Frauen unterliegen strengen Auflagen. Das macht es ihnen noch schwerer, überhaupt auf die Straße zu gehen.
DOMRADIO.DE: Sie - als Frau - leiten seit gut einem Jahr das Caritas-Büro in Kabul. Wie funktioniert das unter diesen Umständen?
Tadjibaeva: Mit viel Vorsicht, Anpassung an lokale Vorschriften und durch die Zusammenarbeit mit verlässlichen Netzwerken. Man muss sich der Risiken und der kulturellen Besonderheiten im Land bewusst sein. Das fällt mir nicht schwer, da ich aus Tadschikistan komme und in einer ähnlichen Kultur aufgewachsen bin.
In Kabul bin ich sehr aktiv in der organisatorischen Arbeit, sowohl im Hintergrund als auch sichtbar im Büro. Ich lege Wert darauf, als Frau präsent zu sein und aktiv mit den Ministerien zusammenzuarbeiten, mit denen wir kooperieren. Verstecken kommt für mich nicht in Frage. Ich passe mich nur dort an, wo es unbedingt nötig ist.
DOMRADIO.DE: Eigentlich haben die Taliban Frauen die Arbeit für ausländische Hilfsorganisationen untersagt. Wie sieht das bei Ihnen aus?
Tadjibaeva: Wir beschäftigen weiterhin afghanische Mitarbeiterinnen. Aktuell stellen wir zwei neue Frauen ein und führen Bewerbungsgespräche. Trotz der Einschränkungen haben sich einige beworben. Das hat mich positiv überrascht. Viele arbeiten zwar in angepassten Rollen oder im Homeoffice, aber sie sind weiterhin Teil unseres Teams. Auch unsere Partnerorganisationen beschäftigen Frauen.
DOMRADIO.DE: Wie erreichen Sie überhaupt Frauen und Mädchen, wenn diese kaum das Haus verlassen können?
Tadjibaeva: Über unsere lokalen Partnerorganisationen, die unsere Projekte umsetzen. So erreichen wir Frauen und Mädchen für psychosoziale Unterstützung, Gesundheitsprogramme und Nothilfe. Zudem stärken wir durch die Arbeit unserer Partner die Rolle von Frauen in der Gesellschaft.
DOMRADIO.DE: Die Lage ist schwierig, aber gibt es auch positive Entwicklungen?
Tadjibaeva: Ja, wenn auch langsamer als erhofft. In einigen Regionen wächst die Akzeptanz für humanitäre Hilfe. Lokale Gemeinschaften kooperieren stärker und es entstehen sichere Räume, in denen Frauen wieder lernen oder arbeiten können. Unsere Projekte schaffen so auch Möglichkeiten für weibliche Mitarbeitende, sichtbar zu bleiben und ihre Position zu behaupten.
DOMRADIO.DE: Was kann die internationale Gemeinschaft – speziell Deutschland – tun, um den Menschen in Afghanistan zu helfen?
Tadjibaeva: Afghanistan darf nicht in Vergessenheit geraten. Es braucht nachhaltige finanzielle Unterstützung, politischen Druck für Frauenrechte und die Stärkung lokaler Akteure.
DOMRADIO.DE: Wie bewerten Sie, dass Deutschland kürzlich Straftäter nach Afghanistan abgeschoben hat?
Tadjibaeva: Das ist ein sehr negatives Signal. Es gefährdet Menschenrechte, verstärkt die Angst in einer ohnehin unsicheren Lage und vermittelt Enttäuschung statt Hoffnung. Es betrifft nicht nur die Rückkehrenden, sondern auch ihre Familien hier. Im Vergleich zu den Massenabschiebungen aus Pakistan oder dem Iran sind die Zahlen zwar gering, doch jedes einzelne Leben ist wichtig. Gerade jetzt darf die afghanische Bevölkerung die Hoffnung nicht verlieren.
Das Interview führte Hilde Regeniter.