Afghanistan droht aus dem Fokus der Weltöffentlichkeit zu geraten

"Sehr unmenschlich“

Im Schatten der Kriege in Nahost und der Ukraine droht die humanitäre Katastrophe in Afghanistan in Vergessenheit zu geraten. Auch die Bundesregierung dürfe sich nicht aus der Verantwortung ziehen, fordert Experte Ekkehard Forberg.

Autor/in:
Ina Rottscheidt
Afghanische Frau in einem Lager für Geflüchtete / © Cristian Gennari/Romano Siciliani (KNA)
Afghanische Frau in einem Lager für Geflüchtete / © Cristian Gennari/Romano Siciliani ( KNA )

DOMRADIO.DE: Die weltweite Unterstützung für Afghanistan sinkt angesichts anderer Krisen und Konflikte weltweit. US-Präsident Donald Trump hat entschieden, die US-Entwicklungshilfe auszusetzen und gleichzeitig die Aktivitäten der US-Entwicklungsbehörde USAID einzuschränken. Sie waren gerade in Afghanistan: Welche Auswirkungen hat das auf das Land und die Menschen? 

Ekkehard Forberg (World Vision)
Ekkehard Forberg / ( )

Ekkehard Forberg: (Christliches Hilfswerk World Vision Deutschland): Ich mache mir besonders Sorgen um die Gesundheits- und Ernährungssituation der Menschen auf dem Land und in abgelegenen Regionen, wo es viele unterernährte Kinder gibt und die Gesundheitsversorgung zum Beispiel durch Impfungen und bei Erkrankungen sehr schlecht ist. 

Dort betreiben wir als World Vision Gesundheitsstationen, wo die Menschen hinkommen können und versorgt werden. Im vergangenen Jahr konnten wir so über 100 Millionen von Armut betroffene Menschen erreichen. Aber in diesem Jahr sieht es schlechter aus, weil insgesamt Afghanistan dieses Jahr 560 Millionen Euro weniger Hilfsgelder zur Verfügung stehen, für alle Hilfsorganisationen, für UN-Organisationen für humanitäre Hilfe, für Entwicklungszusammenarbeit. Das ist natürlich eine große Summe, die letztlich die Menschen vor Ort betreffen wird. Perspektivisch werden wir wahrscheinlich zehn Kliniken schließen müssen aufgrund der aktuellen Kürzungen. 

Ekkehard Forberg

"Gerade bei akuten Erkrankungen oder Schwangerschaften mit Komplikationen ist das dann schon ein sehr weiter Weg, der tatsächlich schwere Auswirkungen haben und zum Tod führen kann".

DOMRADIO.DE: Was bedeutet das? Sind die Menschen dann ohne medizinische Versorgung? 

Forberg: So ist es. Krankenhäuser gibt es in der Regel nur in den Provinzhauptstädten. Ich war in den vergangenen zwei Wochen in der Provinz Ghor unterwegs, die liegt in den Bergen und ist die ärmste Provinz Afghanistans. Wir übernachten dann immer in der Hauptstadt und wenn wir unsere Projekte besuchen, fahren wir morgens um fünf los und kommen erst abends wieder zurück. Für die Menschen dort bedeutet das, dass sie selbst zu diesen dezentralen Gesundheitsstationen sehr lange unterwegs sind, vier, fünf Stunden zu Fuß, auf Eseln oder, wenn sie haben, Motorrädern. Aber wenn die es nicht mehr gibt, dann ist ihre einzige Chance, in ein Krankenhaus die Provinzhauptstadt zu fahren. Und das kann je nach Verkehrsmittel, was zur Verfügung steht, Tage dauern. Gerade bei akuten Erkrankungen oder Schwangerschaften mit Komplikationen ist das dann schon ein sehr weiter Weg, der tatsächlich schwere Auswirkungen haben und zum Tod führen kann. 

Ekkehard Forberg

"Die Frauen werden systematisch von gesellschaftlicher Teilhabe ausgeschlossen".

DOMRADIO.DE: Wie hat sich die Lage der Menschen in Afghanistan seit dem Abzug der internationalen Truppen 2021 und der Machtübernahme durch die Taliban verändert? 

Forberg: Tatsächlich beobachte ich, dass die Unterschiede auf dem Land nicht so groß sind, weil die Entwicklungszusammenarbeit in den letzten 20 Jahren und vor allem die Bildung in den Städten stattgefunden hat. 

Die Frauen werden systematisch von gesellschaftlicher Teilhabe ausgeschlossen. Das ist ein großes Problem, auch für die Gesellschaft an sich, denn der Wirtschaft geht es sehr schlecht. Wenn Frauen ausgeschlossen werden, können sie auch nicht zum gesellschaftlichen Wohlstand beitragen. 

Und das größte Problem sehe ich im Ausschluss von Bildung. Mädchen dürfen nach der sechsten Klasse nicht mehr zur Schule gehen, sie dürfen auch nicht studieren. Und wenn sie keine Schulausbildung haben, dann können sie auch keine medizinischen Fachberufe mehr erlernen. Und so kann ich mir schwer vorstellen, wie zum Beispiel Unterstützung bei einer Geburt in fünf, sechs Jahren aussehen soll, wenn es keine ausgebildeten Fachkräfte mehr gibt. Das wird zu einem großen Problem. 

Und das betrifft nicht nur den Gesundheitsbereich, sondern alle gesellschaftlichen Bereiche werden durch diese Verbote durchdrungen. Wir haben daher jetzt ein Straßenkinderzentrum eröffnet, wo wir Kindern Nachhilfe geben. Vorschulen dürfen wir nicht mehr betreiben, das wurde uns von den lokalen Autoritäten verboten, obwohl das Angebot sehr gut angenommen wurde, vor allem von Mädchen. Wir machen das auf Farsi und Englisch in integrierten Zentren, wo es auch Gesundheitsstationen gibt, wo die jungen Menschen lernen, Obst und Gemüse anzubauen, um die Selbstversorgung zu unterstützen, denn zurzeit bahnt eine große Hungerkatastrophe an. Es gab keine Frühjahrsregen und ohne Ernte wird es vermutlich in der zweiten Jahresheft wieder Hunger geben und so lernen die Menschen subsistenzwirtschaftlich Eigenanbau zu betreiben.

Ekkehard Forberg

"Wir beobachten auch, dass darüber innerhalb der Taliban keine Einigkeit besteht. Es gibt Taliban, die ihre Mädchen zur Schule schicken wollen, auch höherrangige Führer und Minister".

DOMRADIO.DE: In Afghanistan herrscht wieder die Scharia. Was bedeutet das für andere religiöse Minderheiten? Und wie schwierig ist es für Sie als christliches Hilfswerk, dort zu arbeiten? 

Forberg: Afghanistan ist ethnisch sehr divers. Was ich mitbekommen habe: Christen äußern sich nicht offen und können sich nicht offen zu ihrem Glauben bekennen. Zwar gibt es keine direkte Verfolgung, aber man bekennt sich auch nicht zu seinem Glauben. Religionsfreiheit ist insofern nicht gegeben, was aber angesichts der dramatischen humanitären und ökonomischen Entwicklungen gerade in den Hintergrund rückt. 

Wir haben zum Beispiel früher viel mit religiösen Führern zusammengearbeitet, wenn es um das Thema Kinderheirat ging. Wie haben einen Ausbildungszyklus und ein Handbuch entworfen und die Imame als Multiplikatoren genutzt, was sehr gut funktioniert hat. Heute ist das leider nicht mehr so einfach: Dadurch, dass Mädchen nach der sechsten Klasse nicht mehr zur Schule gehen können, werden sie in der Regel dann auch sofort mit 12 oder 13 Jahren verheiratet. Das ist eine direkte Folge des Mangels an Bildung, denn normalerweise wären sie auf der Schule, würden ein Schulessen bekommen und jetzt müssen sie zum Familieneinkommen beitragen und werden früh verheiratet. Das ist keine gute Entwicklung und muss sich dringend ändern. 

Wir beobachten auch, dass darüber innerhalb der Taliban keine Einigkeit besteht. Es gibt Taliban, die ihre Mädchen zur Schule schicken wollen, auch höherrangige Führer und Minister. Aber es gibt eben keine Einigkeit zwischen den religiösen Autoritäten des Landes, die vor allen Dingen in Kandahar sitzen und der Regierung und den Provinzen. Wir hoffen, dass es dort in Zukunft zu Veränderungen kommt.

DOMRADIO.DE: Seit dem Abzug der internationalen Truppen, vor allem aber auch seit Beginn der Kriege in der Ukraine und in Nahost schaut die Welt nicht mehr so oft auf Afghanistan: Droht Afghanistan, ein vergessener Krisenherd zu werden? 

Forberg: Insgesamt wird es natürlich eine größere Konkurrenz geben, weil die Mittel nicht mehr zur Verfügung stehen. Und ich befürchte, dass Afghanistan zukünftig eher weniger Geld für humanitäre Hilfsmaßnahmen bekommt als in der Vergangenheit. Das Land braucht aber langfristige Finanzierungen. Wir brauchen Entwicklungszusammenarbeit, um Themen wie Frühverheiratung angehen zu können. Eine Umstellung der Landwirtschaft auf die Auswirkungen des Klimawandels, beispielsweise durch andere Anbausorten. Auch die Bewässerung ist ein großes Problem, wenn es im Winter keinen Schnee mehr gibt, dann fehlt dieses Wasser in diesen kargen Hügeln Afghanistans im Frühjahr und Sommer für die Ernte. Das heißt, hier sind große Investitionen notwendig. Vieles kann man nur mit Entwicklungszusammenarbeit machen. Und wir müssen dahin kommen, dass die Ursachen bekämpft werden und nicht dauerhaft nur Überlebenshilfe geleistet wird. 

Deswegen bräuchte es wieder eine stärkere Entwicklungszusammenarbeit in Kooperation mit lokalen Organisationen, die in den letzten 20 Jahren aufgebaut wurden und jetzt leider keine Unterstützung mehr erfahren. Wir fordern, dass sich Deutschland dort wieder stärker engagiert, dass die Botschaft wiederbesetzt wird, auch wenn man die Taliban nicht anerkennt, aber dass man mit den Provinzen schaut, was möglich ist, weil die Situation in den einzelnen Landesteilen sehr unterschiedlich ist. 

DOMRADIO.DE: Welche Signale empfangen Sie da aus der neuen Bundesregierung? 

Forberg: Das wissen wir noch nicht so genau, weil sich die Bundesregierung gerade neu aufgestellt und zu Afghanistan dahingehend noch nicht geäußert hat. Wir haben noch keinen Bundeshaushalt. Sobald es diesen gibt, sehen wir, wie viel für humanitäre Hilfe und Entwicklungsarbeit bereitgestellt wird. Insgesamt bedarf es aber eines politischen Engagements für Afghanistan. Das gab es in der letzten Legislatur auch schon nicht. Insofern hoffen wir auf Verbesserungen mit der jetzigen Bundesregierung. 

Ekkehard Forberg

"Man fängt jetzt an, die Aufenthaltserlaubnisse für Menschen zu entziehen, die mit einem Bundesprogrammen hierher eingeflogen wurden und bietet ihnen stattdessen ein neues Asylverfahren an, bei dem nicht klar ist, ob gegebenenfalls die Männer abgeschoben werden und die Frauen und Kinder hierbleiben".

DOMRADIO.DE: Zugleich warten in Afghanistan viele Menschen, die früher als lokale Ortskräfte für die Bundeswehr gearbeitet haben und denen die frühere Bundesregierung nach der chaotischen Machtübername durch die Taliban 2021 eine Aufnahme in Deutschland versprochen hat, auf eine Möglichkeit, auszureisen. Übersetzer beispielsweise, Techniker oder Fahrer, die für die Bundeswehr gearbeitet hatten. Sie galten und gelten unter den Taliban als besonders gefährdet. Trotzdem sollen sie jetzt unter der neuen Bundesregierung vorerst keine Visa mehr bekommen. Wie finden Sie das? 

Forberg: Ich bin in den zwei Wochen, die ich in Afghanistan war, von Menschen angesprochen worden, die früher Ortskräfte waren. Deren Zusagen sind unmittelbar nach Geschäftsaufnahme der neuen Bundesregierung zurückgenommen worden und die Menschen waren sehr schockiert. Ich bin auch sehr schockiert, weil das ein offizielles Bundesprogramm war. Man fängt jetzt an, die Aufenthaltserlaubnisse für Menschen zu entziehen, die mit einem Bundesprogrammen hierher eingeflogen wurden und bietet ihnen stattdessen ein neues Asylverfahren an, bei dem nicht klar ist, ob gegebenenfalls die Männer abgeschoben werden und die Frauen und Kinder hierbleiben. Das halte ich für sehr unmenschlich. 

Ich wünsche mir, dass in jedem Fall die Menschen, die jetzt mit dem Bundesaufnahmeprogramm hier sind, ihre Aufenthaltserlaubnis behalten und zum anderen, dass diejenigen, die zurzeit im pakistanischen Islamabad sitzen, das sind nur rund 1500 Personen, die eine feste Zusage hatten und in Afghanistan schon alles aufgegeben haben, dass diese jetzt zunächst einmal aufgenommen werden. Denn eine Rückkehr ist für sie schwer möglich. Pakistan und Iran weisen Afghanen aus, das heißt, es gibt sowieso große Menschenmengen, die zurzeit nach Afghanistan zurückgeschickt werden, die dort versorgt werden müssen und das ist ein großes Problem, wenn jetzt die Menschen, die sich auf die Zusage der Bundesregierung verlassen haben, auch wieder in ihr Land zurück müssen und nichts mehr haben, weil sie alles verkauft haben. Das ist eine schwierige Situation. 

Das Interview führte Ina Rottscheidt.

Quelle:
DR

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