Blamage der westlichen Allianz nach 20 Jahren Afghanistan

Planlos in die afghanische Katastrophe

Das Desaster am Hindukusch bedeutet voraussichtlich das Ende westlicher Interventionspolitik. Leidtragende sind die Menschen in Afghanistan. Wie konnte es dazu kommen? Und wie verhalten sich künftig die Taliban?

Abzug der Bundeswehr aus Masar-i-Scharif / © Torsten Kraatz (dpa)
Abzug der Bundeswehr aus Masar-i-Scharif / © Torsten Kraatz ( dpa )

"Die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland wird auch am Hindukusch verteidigt" - der Satz des damaligen SPD-Verteidigungsministers Peter Struck fand schon während des Einsatzes der Bundeswehr seinen Platz in der Zitatensammlung der politischen Irrtümer. Tatsächlich erfüllte Berlin nur seine Bündnisverpflichtungen gegenüber den USA, die 2001 allein aus geostrategischen Interessen in das Land einrückten.

Unklarer Auftrag

Während Bundeswehrsoldaten bei Gefechten und Anschlägen starben, scheute man sich krampfhaft, von einem "Krieg" zu sprechen. Merkwürdig, die deutsche Armee sollte etwas "verteidigen", führte aber keinen Krieg? Bis heute wird der Begriff von Politikern und Medien gemieden.

Lieber gab man sich der zweiten Illusion hin, dass die Deutschen in der Lage seien, einen substanziellen Beitrag für Fortschritt und demokratische Entwicklung in Afghanistan zu leisten. Dafür stand der Bau von Brunnen und Mädchenschulen. Sicher gab es hier lokale Erfolge. Doch alle am ISAF-Einsatz beteiligten Staaten hätten viel mehr Truppen und Mittel aufwenden, viel größere Gebiete sichern und viel länger im Land bleiben müssen, um dauerhafte Erfolge zu erzielen. Dazu waren die USA nicht bereit.

Demokratieentwicklung nach westlichen Vorstellungen

Und selbst wenn, wären Deutschland und seine Verbündeten wohl dem dritten Selbstbetrug erlegen: Dass die Afghanen die zivilisatorische "Beglückung" aus dem Westen dankbar annehmen werden. Das galt für eine dünne Mittel- und Oberschicht in den besetzten Städten, aber vier von fünf Afghanen leben auf dem Land. Die Entwicklung kam dort nicht an. Den westlichen Einfluss haben diese Menschen allenfalls in Form von Drohnenangriffen mitbekommen, bei denen Tausende starben. Der Rückhalt der Taliban in diesen Schichten dürfte größer sein als gedacht.

Der Westen hatte sich für sein "Nation Building" nicht nur eines der ärmsten, sondern auch archaischsten und ethnisch zersplittertsten islamischen Länder ausgesucht. Die Loyalität gilt hier zuerst der Scharia, dann dem Stamm, der Großfamilie, der Dorfgemeinschaft, aber keiner abstrakten Nation. Berichte von Veteranen zeigen, dass selbst rund um die deutschen Feldlager viele Afghanen den Fremden mit Misstrauen begegneten. Viele sahen sie nicht als humanitäre Helfer im Kampfanzug, sondern als ungläubige Besatzer. Und die haben es in Afghanistan noch nie geschafft. 59 tote Bundeswehrsoldaten sind ein trauriger Preis für diese Erkenntnis. Wie Außenminister Heiko Maas (SPD) noch im Juni auf Twitter eine "selbstbewusste afghanische Zivilgesellschaft" ausmachen konnte, bleibt sein Geheimnis.

Imperialismus mit anderen Vorzeichen

Der Westen hat im voranschreitenden 21. Jahrhundert die Strukturen und Mentalitäten islamischer Gesellschaften immer noch nicht verstanden. Statt Realismus herrschen naives Wunschdenken und ein wohlmeinender Kulturexport, den die meisten Muslime letztlich genauso ablehnen wie den früheren europäischen Imperialismus. Dabei haben die USA die idealistischen Ziele ihrer deutschen Hilfstruppen gar nicht mal verfolgt. Ihnen ging es vor allem um die Installation einer Marionettenregierung, die Washingtons Interessen umsetzt.

Korrupt, ineffizient und in weiten Teilen der Bevölkerung verhasst, hat es diese Regierung nicht einmal vermocht, die mit Milliarden US-Dollar aufgerüstete afghanische Armee zu einer halbwegs kampfbereiten Macht zu formen. Die Mittel für Sold, Verpflegung, sogar Munition versickerten, genauso wie die Moral der Truppe. Selbst die USA ließen die Kabuler Führung schließlich fallen und verhandelten 2020 lieber direkt mit den Taliban über ihren Abzug.

Falsche Einschätzung der Lage

Dennoch hat der kampflose Durchmarsch der Gotteskrieger in die Hauptstadt den Westen kalt erwischt. Ergebnis sind die katastrophalen Szenen am Flughafen von Kabul und die vielleicht folgenschwerste Blamage westlicher Interventionspolitik seit 1945. Deutschland wirkt bei der Evakuierung seiner Staatsbürger und Ortskräfte völlig desorganisiert. Ob der Job bis zum geplanten amerikanischen Abzug am 31. August erledigt ist, steht dahin.

Ungewiss ist auch der Kurs der Taliban. Die "Experten" widersprechen sich hier seit Tagen diametral. Für die einen haben sich die Islamisten seit 2001 gewandelt und werden künftig pragmatischer und moderater agieren, schon um die von der EU-Kommission an Bedingungen geknüpfte Entwicklungshilfe zu bekommen und ihre Legitimation im Land zu stärken.

Gewandelte Taliban?

Andere sehen darin nur das alte Wunschdenken und rechnen teils mit einem noch brutaleren Regime als vor 20 Jahren. Zusagen über eine Amnestie für Kollaborateure und Frauenrechte seien lediglich Lippenbekenntnisse, bis die Amerikaner fort sind. Im Übrigen stünden anders als damals China und auch Russland als Finanziers des neuen Gottesstaats bereit, denen Menschenrechte egal sind, solange sie ihren geopolitischen Einfluss ausbauen können. "Kirche in Not" befürchtet sogar eine islamistische Renaissance in Südasien.

Am Dienstag berichtete das UN-Menschenrechtsbüro über Gewalt an Gegnern der Taliban und an Frauen. Man hofft, dass sie der Heterogenität der Taliban geschuldet ist und deren politische Führung die radikalsten Kräfte im Zaum hält. Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell hat angedeutet, dass es zu Gesprächen mit der Taliban-Spitze kommen könnte. Dafür spricht zum einen, dass man Chinesen und Russen nicht das Feld überlassen will.

Furcht vor Flüchtenden

Zum anderen drängt das Angstthema Flüchtlinge. Ein Terrorregime wie vor 20 Jahren könnte erneut Millionen Menschen in Gang setzen, aber auch zum opportunen Asylgrund werden. Schon jetzt rechnet man in Brüssel und Berlin mit mindestens sechsstelligen Zahlen - und wirkt auch hier planlos. Gedacht ist an Finanzhilfen für Afghanistans Nachbarländer, um die Menschen notfalls unterzubringen.

Man sendet aber gleichzeitig keine klaren Signale, dass Europa außer afghanischen Ortskräften und wirklich bedrohten Menschen- und Frauenrechtlern nicht erneut Hunderttausende aufnehmen kann - oder glaubt man im Sinne des UN-Migrationspakts von 2018, den EU-Kommissarin Ylva Johansson am Montag ins Spiel brachte, doch daran? Ohne diese Signale dürften jene, die sich die Reise irgendwie leisten können und vielleicht schon Ankerpersonen in Europa haben, kaum mit Flüchtlingslagern in Pakistan oder Tadschikistan vorlieb nehmen.

Kirchliche Organisationen in Afghanistan

Zum Lackmustest könnte der Umgang der Taliban mit den Hilfsorganisationen im Land werden. Die meisten wollen ihre Arbeit fortsetzen, auch kirchliche Partner. Bisherige Signale aus den Reihen der Islamisten deuteten bislang auf eine Art "wohlwollendes Dulden" hin, hieß es von Miseror. Laut Unicef benötigen fast zehn Millionen Kinder humanitäre Hilfe, "völlig unabhängig von der politischen Entwicklung".


Quelle:
KNA