Bischof Ackermann fordert Schutzzonen für syrisches Volk

Wachsendes Gefühl der Frustration

Syrien versinkt 15 Monate nach Beginn des Aufstandes gegen das Assad-Regime in einem Strudel der Gewalt. Nach Ansicht des Trierer Bischofs Stephan Ackermann benötigt die Zivilbevölkerung Schutzzonen. Dafür solle sich die internationale Gemeinschaft einsetzen. Ackermann ist auch Vorsitzender der Deutschen Kommission Justitia et Pax.

 (DR)

KNA: Herr Bischof Ackermann, welche Informationen haben Sie über die Lage der Zivilbevölkerung?

Bischof Ackermann: Das Bild, das sich uns ergibt, ist vielschichtig und keineswegs auf einen schlichten Nenner zu bringen. Wir sind daher gut beraten, uns trotz der drängenden Bilder um einen möglichst differenzierten Blick zu bemühen. Eines ist aber ganz deutlich, und die vielen Toten belegen es jeden Tag aufs Neue: Die Bedrohung und Gefährdung der Zivilbevölkerung nimmt dramatisch zu.



KNA: UN-Beobachter berichten von unerhörten Gräueltaten der Regierungstruppen und der Assad-treuen Schabiha-Miliz gerade auch gegen Kinder. Wie steht es um die Schutzverantwortung der Internationalen Gemeinschaft?

Bischof Ackermann: Es besteht trotz vieler Unklarheiten, wer im Einzelnen, warum gegen wen kämpft kein Zweifel, dass es erhebliche schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen und Gewaltexzesse gibt.

Daran sind nicht nur die Regierungskräfte beteiligt. Wie so oft sind in solchen massiven Gewaltdynamiken vor allem die Schwachen, das heißt Kinder und alte Menschen, besonders gefährdet. Die internationale Gemeinschaft hat in den 90er Jahren schmerzhafte Lernprozesse angesichts ihres Versagens in Jugoslawien oder auch in Ruanda durchlaufen. Es ist gut und richtig, dass mittlerweile die sogenannte Schutzverantwortung, die Responsibility to Protect, zu einem festen Bestandteil des internationalen Denkens geworden ist.



KNA: Die USA wie andere Staaten schließen bislang ein militärisches Eingreifen aus, weil sie einen Flächenbrand befürchten. Wie kann die internationale Gemeinschaft dann realistisch ihrer Schutzverantwortung nachkommen?

Ackermann: Es hieße den Gedanken der Schutzverantwortung unzulässig zu verkürzen, wollte man ihn nur auf die Frage einer militärischen Intervention reduzieren. Die politische Leitfrage ist: Wie können wir einen hinlänglichen Schutz der Zivilbevölkerung gewährleisten?

Das kann am Ende in manchen Fällen dazu führen, dass man auch militärische Mittel in Erwägung zieht. Sich aber vorschnell nur noch mit dieser Frage zu befassen, wird dem Ernst militärischer Mittel nicht gerecht, und es verengt den politischen Blick zusätzlich.



KNA: Manches erinnert an die Lage der Bevölkerung in Sarajewo während der Balkankriege. Gibt es angesichts der ungeheuren Brutalität nicht auch hier das Gebot einer humanitären Intervention?

Ackermann: In der Tat ist die Lage dramatisch. Eine humanitäre Intervention ist ernsthaft in Erwägung zu ziehen. Im Zentrum einer solchen Intervention müsste die Einrichtung von Schutzzonen stehen, die es großen Teilen der Zivilbevölkerung ermöglichen würde, sich in Sicherheit zu bringen. Doch angesichts der realen Verhältnisse steht und fällt dieser Schutz nicht nur mit der Stärke der Intervenierenden, sondern vor allem auch mit der Bereitschaft der Kombattanten, diese Schutzzonen zu respektieren. An dieser Stelle sind Diplomatie und Politik gefragt. Schutz der Zivilbevölkerung und Eindämmung der Gewalt sind oberste Priorität. Doch auch bei einer humanitären Intervention besteht immer die Gefahr, zur Gewalteskalation beizutragen, wenn die Intervention nicht in ein breit und sei es auch widerwillig getragenes politisches Konzept eingebettet ist. Vor diesem Hintergrund ist das Verhalten Russlands und Chinas, das dem Schutz der Zivilbevölkerung eben nicht die ihm zustehende Bedeutung beimisst, sondern letztlich auf sehr konventionellen staatlichen Machtinteressen beruht, Teil des Problems.



KNA: Große Teile der syrischen Elite gehören der Religionsgemeinschaft der Alawiten an. So spielt auch die Religionszugehörigkeit bei dem Konflikt eine wesentliche Rolle. Wie steht es um die christliche Minderheit in Syrien?

Ackermann: Nach allem, was wir von den christlichen Kirchen in Syrien hören, tragen die Konflikte zum jetzigen Zeitpunkt eigentlich im Innersten keine religiösen Motive. Vielmehr spielen hier erhebliche regionalpolitische Interessen eine Rolle, die sich allerdings zunehmend religiös aufladen. Mit einer weiteren Gewalteskalation steht zu befürchten, dass auch diese Art religiöser Deutungen des Konflikts an Raum gewinnt, was Verhandlungslösungen mit großer Sicherheit erschwert. In einem solchen Falle stände zu befürchten, dass auch die christliche Minderheit als christliche Minderheit in neuer Weise unter Druck gerät und gefährdet wird.



KNA: Wie bewerten Sie noch die Chancen des Annan-Friedensplanes?

Ackermann: Ich sage es Ihnen ganz ehrlich: Ich weiß es nicht. Es fällt mir sehr schwer, die Sichtweisen der Akteure und ihre Widerstände gegen diesen Friedensplan nachzuvollziehen. Hier scheinen Realitätsverweigerung, politischer Zynismus, Selbstüberschätzung und blanke Überlebensangst ein unheilvolles Bündnis eingegangen zu sein, das insbesondere die Regierung Syriens an dem eingeschlagenen Weg der massiven Gewaltanwendung festhalten lässt. Den Preis für diese ausgesprochen kurzsichtige Politik zahlt die syrische Zivilbevölkerung.



KNA: Syrien versucht offenbar die Fluchtwege in die Türkei durch Minen zu verhindern. Wie ist die Lage der Flüchtlinge?

Ackermann: Die Behinderung der Fluchtbewegungen sowie die Schließung der Grenzen stellt ein großes humanitäres Problem dar. Die internationale Politik sollte daher ihre Anstrengungen verstärken, Syrien zu bewegen, zumindest seine Grenzen für Flüchtlinge zu öffnen. Allerdings gilt es dann, auch die Nachbarn in der Bewältigung des Flüchtlingsproblems wirksam zu unterstützen, umso mehr als zum Beispiel der Libanon selbst keineswegs stabil ist und in den Konflikt mit hineingezogen zu werden droht.



KNA: Finden der Konflikt im Nahen Osten und die Leiden der Zivilbevölkerung in der Öffentlichkeit hinreichend Beachtung?

Ackermann: Ja und Nein. Sicherlich werden die Bilder und Berichte aus Syrien derzeit stark verbreitet. Aber neben der Empörung lösen sie zugleich auch ein wachsendes Gefühl der Frustration aus, was nicht unbedingt dazu beiträgt, den notwendig differenzierten Blick zu entwickeln, den jede langfristig tragfähige Politik benötigt.

Zudem bin ich skeptisch, ob nicht schon bald eine mediale Ermüdung eintritt, zumal wenn die Gewaltintensität vielleicht sinken sollte.

Gerade vor diesem Hintergrund halte ich es für unsere Aufgabe, für den Schutz der syrischen Zivilbevölkerung zu appellieren.



Das Interview führte Christoph Scholz (kna)





Hintergrund: Die Kommission "Justitia et Pax" ("Gerechtigkeit und Frieden")  ist eine Einrichtung der Deutschen Bischofskonferenz und des Zentralkomitees der deutschen Katholiken. Ihre Aufgabe ist die Förderung von Entwicklung, Menschenrechten und Frieden.