Bis ins 20. Jahrhundert sangen im Vatikan Kastraten

"Stimmumfang, den man so nicht kannte"

Es wirkt aus der Zeit gefallen, dass erst vor 100 Jahren der letzte Kastrat der päpstlichen Kapelle verstarb. Die Kirche hielt länger an Knabenkastration fest als die Kultur, obwohl schon länger versucht wurde, das zu ändern.

Chorsänger (Symbolbild) / © Pav-Pro Photography Ltd (shutterstock)
Chorsänger (Symbolbild) / © Pav-Pro Photography Ltd ( shutterstock )

DOMRADIO.DE: Was schätzte man im Vatikan an solchen Kastratenstimmen?

Vatikanexperte Ulrich Nersinger (EWTN)
Vatikanexperte Ulrich Nersinger / ( EWTN )

Ulrich Nersinger (Vatikanexperte): Kastratenstimmen hat man in ganz Europa über Jahrhunderte geliebt, weil sie einen Stimmumfang hatten, den man so nicht kannte. Und im kirchlichen Bereich muss man immer bedenken: Es galt lange Zeit ein Verbot von Frauen in Kirchenchören. Um dem zu entgehen, hat man dann Kastraten genommen.

Man hat sie auch in der ganzen Welt – völlig unabhängig von der ideologischen Ausrichtung – genutzt, weil es doch für alle etwas Besonderes war. Sie konnten zweieinhalb bis dreieinhalb Oktaven höher singen und das hat natürlich die Leute fasziniert, auch Komponisten, sodass eigene Stücke für sie geschrieben wurden.

DOMRADIO.DE: In der Opernwelt waren Kastraten schon Mitte des 19. Jahrhunderts verschwunden, im Vatikan haben sie sich bis ins 20. Jahrhundert gehalten. Lag das auch an dieser stimmlichen Frauenfeindlichkeit?

Nersinger: Jein. Man muss wissen, dass das zu Zeiten von Pius IX. war. Der war eigentlich von Anbeginn gegen Kastratenstimmen in der Sixtina, wie auch generell gegen Kastratenstimmen. Pius IX. war ein musikalisch sehr begeisterungsfähiger und interessierter Mensch, der auch persönliche Kontakte zu Rossini und zu Franz Liszt hatte.

Beide haben ihm davon abgeraten. Beide haben gesagt: Das muss man mal beenden. Und der Papst wollte das auch und zwar in zweifacher Hinsicht, indem er die Kastration verbieten und Frauenstimmen zulassen wollte. Das hat er schon von Anfang an versucht. Da ist er aber gegen Widerstände angetreten. Er hat später mal gesagt, die Widerstände gegen das Erste Vatikanum, also gegen das Unfehlbarkeitsdogma, seien weniger heftig gewesen als gegen die Aufhebung des Gesangsverbots für Frauen. In einer Korrespondenz von Rossini steht, dass er einmal darum ersucht habe, dass Frauen singen dürfen. Der Papst musste einen negativen Bescheid geben. Aber Rossini schreibt: Im Herzen war der Papst für die Frauenstimmen. Es wurde dann niemand mehr kastriert, aber man hat die Kastraten weiter für die Gesänge in der Sixtina genutzt.

DOMRADIO.DE: Der letzte Kastrat, der vor 100 Jahren starb, war Alessandro Moreschi, der ja auch der "Engel von Rom" genannt wurde. Wer war denn dieser Mann?

Nersinger: Der wurde 1858 in der Nähe von Frascati geboren und dann vermutlich durch seine Eltern dazu gebracht. Es sind meistens die Eltern gewesen, die Kinder dazu – ich will nicht sagen: gezwungen haben, weil sie sich dadurch natürlich auch finanzielle Vorteile erhofften. Kastraten waren begehrt. Aber leider sind auch sehr, sehr viele Kastraten bei diesem Eingriff gestorben oder schwer geschädigt worden.

Es war nicht so sehr der Drang der Kirche, solche Leute zu finden oder kastrieren zu lassen. In dieser Zeit war das auch eine soziale Aufstiegsmöglichkeit. Moreschi ist einer der letzten gewesen. Man hat auch gesehen, dass solche Eingriffe schwierig sind, denn er hat während seines Lebens auch den Stimmumfang verloren.

DOMRADIO.DE: Er sang in der Päpstlichen Cappella Sistina. Was war denn an der so besonders?

Der Päpstliche Chor der Sixtinischen Kapelle vor einer Aufführung im Jahr 2019 / © Paul Haring/CNS photo (KNA)
Der Päpstliche Chor der Sixtinischen Kapelle vor einer Aufführung im Jahr 2019 / © Paul Haring/CNS photo ( KNA )

Nersinger: Das Besondere war, dass man den Gesängen der Sixtina eine Klangfarbe geben konnte, die man nur mit Kastraten erreichen konnte, sonst hätte man Frauen nehmen müssen. Und das war natürlich für die damalige Zeit undenkbar.

DOMRADIO.DE: Gibt es diesen Chor heute noch?

Nersinger: Die Sixtinische Kapelle gibt es heute noch und sie ist auch reformiert worden, durch einen der bedeutendsten Päpstlichen Kapellmeister, Lorenzo Perosi. Wir feiern in diesem Jahr seinen 150. Geburtstag. Der trat sehr jung schon, in seinen 20er Jahren, in die Sixtina ein.

Er hat bereits 1902 darauf gedrungen – bei Leo XIII. – die Kastration und Kastratensänger zu entfernen, und hat es dann tatsächlich bei dessen Nachfolger Pius X. 1903 mit einem Motu proprio – also einer päpstlichen Verfügung – erreicht, dass es keine Kastraten mehr gab. Die Kastraten, die noch lebten, wurden dann emeritiert.

DOMRADIO.DE: Und heute vor 100 Jahren ist Alessandro Moreschi gestorben. Erinnert denn noch irgendwas an ihn im Vatikan?

Nersinger: Eigentlich wenig. Das, was am bekanntesten von ihm geblieben ist, sind diese alte Tonaufnahmen. Viele Leute schrecken diese Aufnahmen ab. Andere sagen, das ist ein unglaubliches Kulturdokument. Also von den Kastraten ist nichts mehr geblieben. Wir haben heute die jungen Sänger – und es gab ja auch schon mal einen Auftritt einer berühmten Sängerin in der Sixtinischen Kapelle. Also ich denke, da zeigen sich noch neue Aspekte durchaus an.

Das Interview führte Heike Sicconi.

 

Quelle:
DR