Auch für die beiden evangelischen Landeskirchen und die zwei katholischen Bistümer im Südwesten war der Regierungswechsel eine enorme Umstellung. Die Bilanz nach 100 Tagen grün-roter Regierung am 20. August fällt bei den seit Jahren energiepolitisch grün orientierten Kirchen freundlich-nüchtern aus: Die Zusammenarbeit mit Grün-Rot sei "weder das Paradies noch das Fegefeuer". Als größter Pluspunkt gilt der oberste Repräsentant des Bündnisses. Denn Kretschmann macht aus seiner Nähe zum Glauben keinen Hehl und kommt auch als Regierungschef zu Veranstaltungen wie dem Sommerfest der Katholischen Akademie des Bistums Rottenburg-Stuttgart, deren Kuratorium er seit fast einem Jahrzehnt angehört. Indes heißt es bei aller Sympathie, Kretschmann sei zwar Regierungschef, aber nicht die Landesregierung.
Anfang Juli stand der traditionelle Meinungsaustausch zwischen Ministerpräsident und Kirchenspitzen erstmals in neuer Konstellation an. Die Atmosphäre beim Gespräch Kretschmanns mit Freiburgs Erzbischof Robert Zollitsch, Rottenburg-Stuttgarts Bischof Gebhard Fürst und den evangelischen Landesbischöfen Frank Otfried July aus Württemberg und Ulrich Fischer aus Baden war dem Vernehmen nach sehr gut und entspannt. Die Kirchen gewannen den Eindruck, dass ihr Engagement für Bildung und im Sozialsektor anerkannt und geschätzt ist.
Die Finanzierung der Privatschulen, ein Dauerkonfliktthema mit der schwarz-gelben Vorgängerregierung, könnte in absehbarer Zeit als Streitpunkt vom Tisch sein; die Gespräche dazu laufen auf Arbeitsebene. Sorgen bereiten den Kirchen die Pläne zur Aufwertung des Fachs Ethik, weil langfristig eine Schwächung des konfessionellen Religionsunterrichts befürchtet wird. Im Koalitionsvertrag steht: "Ethik soll neben Religion als Alternative schrittweise ab Klasse 1 eingeführt werden." Doch wie wird das von der bis März weithin unbekannten sozialdemokratischen Kultusministerin Gabriele Warminiski-Leitheußer umgesetzt? Wird Ethik Wahlfach, Wahlpflichtfach oder Pflichtfach? Konkretes liegt (noch) nicht vor.
Positiv stehen die Kirchen den Plänen zum Ausbau des islamischen Religionsunterrichts gegenüber. Immerhin wird Tübingen mit seinen traditionell starken theologischen Fakultäten auch mit kirchlichem Segen einer der vier deutschen Ausbildungsstätten für islamische Theologie.
Spannender ist oft Ungesagtes: Als Kretschmann im Juli den Kabinettsbeschluss verkündete, nach dem Homosexuelle künftig in Standesämtern ihre Lebenspartnerschaft begründen dürfen und gleichgeschlechtliche Staatsdiener im Beamtenrecht Heterosexuellen gleichgesetzt werden, geschah - nichts. Weder in Freiburg noch in Rottenburg, weder in Karlsruhe noch in Stuttgart regte sich öffentlicher Protest. Die Kirchen hatten den Schritt erwartet. Außerdem gelten die Bistümer und Landeskirchen ebenso wie Baden-Württemberg, wo 1980 in Karlsruhe die Bundespartei der Grünen gegründet wurde und diese erstmals ins Parlament eines Flächenlandes einzog, als eher liberal. Als Begeisterung dürfe das angeblich nicht abgesprochene ökumenische Schweigen allerdings nicht fehlgedeutet werden, heißt es.
Positiv registriert wird, dass sich die Regierung um einen neuen Umgangsstil bemüht. Ex-Ministerpräsident Stefan Mappus galt auch in Kirchenkreisen als christdemokratische Version schröderscher Basta-Politik. Und die CDU hat nicht vergessen, dass Stuttgarts Ex-Stadtdekan Michael Brock Mappus öffentlich eine Politik "in Rambomanier" bescheinigte. Mehr Bürgerbeteiligung und bessere politische Kommunikation sind für beide Kirchen alternativlos.
Trotz allem: Die Kirchen stehen der neuen Regierung mit positiven Erwartungen, aber keineswegs unkritisch gegenüber. Für eine seriöse Bewertung sei es zu früh und "die Niederungen des Alltags" würden noch kommen, heißt es in Kirchenkreisen.
Bilanz der Kirchen nach 100 Tagen Grün-Rot in Baden-Württemberg
Weder Paradies noch Fegefeuer
Für viele bedeutete der 27. März fast eine Zeitenwende: Nach 58 Jahren ununterbrochener Regierungsverantwortung wurde die baden-württembergische CDU abgewählt und mit Winfried Kretschmann erstmals ein Politiker der Grünen Ministerpräsident.
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