Bewegender Trauergottesdienst in Paris für Abbé Pierre

"Seinen Kampf fortsetzen"

Frankreich hat am Freitag Abschied genommen von Abbé Pierre. Der offensichtlich sehr bewegte Staatspräsident Jacques Chirac und Premierminister Dominique de Villepin sowie die gesamte politische Elite des Landes nahmen ebenso an dem Gottesdienst teil wie oft bärtige, allesamt einfach gekleidete Männer, die als Mitglieder der Emmaus-Bruderschaften zu den Weggefährten des am Montag im Alter von 94 Jahren verstorbenen Ordensmannes gehörten.

 (DR)

Tausende harrten in der Kälte aus
Der Sarg des "Vaters der Obdachlosen" in der Kathedrale Notre-Dame in Paris war zunächst nur mit dem schwarzen Umhang bedeckt, der zu seinem Markenzeichen geworden war, später kam noch sein Priestergewand hinzu. Die großen öffentlich-rechtlichen und privaten Fernsehsender übertrugen den Gottesdienst aus der Pariser Kathedrale. Tausende harrten in der Kälte auf dem Vorplatz des Gotteshauses aus und verfolgten von dort auf Bildschirmen die Feier.

"Die beste Art, ihn zu würdigen, besteht darin, seinen Kampf fortzusetzen", sagte Martin Hirsch, Präsident der französischen Emmaus-Gemeinschaft, in einer kurzen Begrüßungsansprache. Er begründete auch, warum Abbe Pierre schon zu Lebzeiten seine Zustimmung für einen Trauergottesdienst in der weltberühmten Kathedrale Notre-Dame gegeben habe: Nicht, weil der Ordensmann sich mit Ehre habe schmücken wollen oder er sich von der extremen Einfachheit abgewendet habe, die sein Leben auszeichne. Abbe Pierre habe vielmehr gehofft, damit noch einmal "die höchsten Würdenträger der Nation mit den bescheidensten Emmaus-Jüngern" zusammenzubringen, um ihnen zusätzliche Kraft für den Kampf gegen Armut und Ungerechtigkeit zu geben.

Der französische Primas, Kardinal Philippe Barbarin, erinnerte an ein Schlüsselerlebnis des als Henri Antoine Groues geborenen Abbe Pierre. Als seine Brüder einmal freudig von einem mit Vettern verbrachten Nachmittag berichteten, habe der kleine Henri mit den Worten reagiert: "Was geht's mich an - ich war nicht dabei." Sein Vater habe ihn daraufhin zur Seite genommen und gescholten: "Aber Henri, zählen die anderen nicht auch für dich?" Abbe Pierre habe diese Episode sein Leben lang nicht vergessen.

Abbé Pierre: "Wie wir alle ein Sünder"
Nur kurz, ganz zu Anfang der Trauerfeier, klang an, dass der katholische Ordensmann nicht immer mit seiner Kirche ganz einig war und sogar "flüchtige sexuelle Beziehungen" eingeräumt hatte. Der Pariser Erzbischof Andre Vingt-Trois lud zum gemeinsamen Schuldbekenntnis mit dem Hinweis ein, Abbe Pierre sei "wie wir alle" ein Sünder gewesen. Die Wertschätzung für den verstorbenen Ordensmann brachte Frankreichs Kirche aber allein schon dadurch zum Ausdruck, dass mit Vingt-Trois und Barbarin und dem Vorsitzenden der Bischofskonferenz, Kardinal Jean-Pierre Ricard, ihre höchsten Repräsentanten den Gottesdienst zelebrierten.

Auch in Straßburg und Lyon sowie an zahlreichen anderen Orten hatten zudem am Vorabend Gottesdienste für Abbe Pierre stattgefunden. Rund 3.000 Menschen nahmen am Donnerstag in einem Pariser Sportpalast an einer Abschiedsfeier teil, bei der über fast fünf Stunden hinweg Weggefährten an das Leben des Verstorbenen erinnerten. In Notre-Dame verbeugten sich auch Vertreter der Orthodoxie, des Judentums, der Muslime und des Buddhismus vor dem Sarg.

Beigesetzt werden sollte Abbe Pierre am Nachmittag in Esteville, einer kleinen normannischen Gemeinde im engsten Kreis von Familien und Freunden. Dort hatte er viele Jahre seines Lebens verbracht, dort ruhen auch sein erster Emmaus-Mitstreiter und seine langjährige Sekretärin. Ein Wunsch des Ordensmannes, der eine äußerst bescheidene Beisetzung wünschte, blieb aber unerfüllt: Entgegen seinem Willen trafen in Esteville Massen von Blumen ein.

Emmaus-Gemeinschaften in 30 Ländern aktiv
Der 1912 als Henri Antoine Groues in Lyon geborene Abbe Pierre trat in den Kapuzinerorden ein und ging im Zweiten Weltkrieg in den Widerstand. Dort erhielt er seinen Decknamen "Abbé Pierre", unter dem er später bekannt wurde. Er erhielt höchste Militär- und Widerstandsorden. Nach dem Krieg gehörte er bis 1951 der französischen Nationalversammlung an.

1949 gründete er die Emmaus-Bruderschaft, die sich der Hilfe für die Ärmsten der Armen widmet. Vier Jahre später eröffnete er ein Obdachlosenasyl, der Ausgangspunkt der Emmaus-Gemeinschaften. Die Emmaus-Bewegung ist heute in mehr als 30 Ländern - darunter Deutschland - mit weit über 300 Gemeinschaften vertreten. Auch in den Folgejahren setzte sich Abbe Pierre für Arme und Außenseiter ein, so für Hausbesetzer, Strafentlassene, psychisch Kranke und HIV-Infizierte. Für sein Engagement wurde Abbe Pierre vielfach geehrt. Zwei Mal wurde er für den Friedens-Nobelpreis.