Betroffener fordert Gesetz für Fragen sexuellen Missbrauchs

"Wir brauchen die Pflicht zur Aufarbeitung"

Die Aufarbeitung sexualisierter Gewalt in der Kirche läuft je nach Bistum in unterschiedlichem Tempo. Für den Betroffenen Karl Haucke hat sich auch der Staat bisher versteckt, er fordert daher einen anderen Rechtsrahmen.

Karl Haucke / © Julia Steinbrecht (KNA)
Karl Haucke / © Julia Steinbrecht ( KNA )

DOMRADIO.DE: Der Jurist Stephan Rixen, Direktor des Institutes für Staatsrecht an der Universität Köln ist vom Land NRW benannt worden als Mitglied der Unabhängigen Aufarbeitungskommission für das Erzbistum Köln. Und Stephan Rixen hat kürzlich kritisiert, dass der Staat sich hinter der bewährten Kooperation mit den Kirchen verstecke -  Wie sehen Sie das? Versteckt sich der Staat? 

Karl Haucke / © Thomas Schaekeld (privat)
Karl Haucke / © Thomas Schaekeld ( privat )

Karl Haucke (Gründungsmitglied des unabhängigen Instituts für Prävention und Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt an der Bonner Universität): Die Betroffeneninitiativen – ich meine jetzt ausdrücklich jene Gruppen, welche sich ohne Unterstützung der Kirchen entwickelt haben, aus eigener Kraft und völlig allein gelassen von den Täterorganisationen, –  wir versuchen schon lange darauf aufmerksam zu machen: Aufarbeitung ist etwas, das die Kirche nicht alleine kann. Und sie will es auch nicht, das System als Ganzes nicht und viele ihrer Vertreter wollen es auch nicht.

Karl Haucke

"An dieser Stelle hat sich der Staat bisher weitgehend versteckt, indem er das undemokratische Vorgehen der Kirche akzeptiert hat."

Sehen Sie mal, wenn ein Radfahrer von einem LKW überfahren wird, ist dies eine fürchterliche Individuelle Tragödie mit einem gesellschaftlichen Rahmen. Jetzt stellen wir uns mal vor, ein Unternehmen vertuscht die häufigen und regelmäßig von seinen Fahrern verursachten Unfälle an Radfahrern systematisch, und versetzt die Fahrer an andere Standorte  und leugnet kontinuierlich seine Mitverantwortung – dann haben wir eine Ahnung vom Ausmaß des institutionellen Verbrechens, über das wir hier reden.

Diese Verbrechen bleiben in unserer Rechtsordnung weitgehend ungesühnt. Und an dieser Stelle hat sich der Staat bisher weitgehend versteckt, indem er das undemokratische Vorgehen der Kirche akzeptiert hat. Eine Großinstitution mit moralischem Anspruch und eigenem Rechtscharakter in unserer Gesellschaft hat systematisch Kindesmissbrauch durch ihr Personal vertuscht und der Staat ist nicht eingeschritten. Das ist das Problem.

DOMRADIO.DE: Stephan Rixen fragt auch kritisch nach, wie unabhängig den die sogenannten Kommissionen sind, die jetzt von den Bischöfen und Landesregierungen eingesetzt werden. Wie beurteilen Sie die Unabhängigkeit?

Haucke: Unabhängigkeit ist ein dehnbarer Begriff. Der wird heute in nahezu jedem Bistum anders ausgelegt. Ist jemand, der kein Kirchenmitglied ist, aber dem Bischof die Füße küsst, unabhängig?
Schon die Tatsache, dass alle Kommissionsmitglieder von der Bistumsleitung berufen werden – auch die von den Landesregierungen benannten und die von den Betroffenenbeiräten benannten – schafft ja schon eine gewisse Beziehung. Was ist der Grund für diese Berufung? Herr Rixen sagt zu Recht, dass es nicht primär vom guten Willen vermeintlich netter Menschen abhängt, ob Aufarbeitung unabhängig funktioniert.

Die Zusammensetzung von Aufarbeitungskommissionen muss stärker rechtsstaatlich gesteuert werden. Das wäre dann der Anfang von demokratisch legitimierter Aufarbeitung.

Derzeit haben wir in vielen Kommissionen eine Fortsetzung dessen, was das System Kirche schon immer mit Betroffenen sexualisierter Gewalt macht: Man deutet, was gut ist für Betroffene und definiert damit eine eigene Realität, die weit entfernt ist von dem, was die Autoren der "gemeinsamen Erklärung" sich damals vorstellen konnten.

Deshalb brauchen wir ein gesetzlich verankertes Recht zur Aufarbeitung, dass von den Täterorganisationen fordert, dass sie endlich die Verantwortung der Garantenstellung übernehmen, die sie im Rahmen eines Betreuungsverhältnisses – denn darum geht es fast immer – versprochen haben.

Karl Haucke

"Nur wer verstanden hat, was Kinder in sich tragen und wie Biografien durch sexualisierte Gewalt ein Leben lang beeinflusst werden, [...] der ist wirklich bereit, den Missbrauch effektiv zu bekämpfen."

DOMRADIO.DE: Der Kritik, die der Juraprofessor Rixen hat, hat auch die neue Missbrauchs-Beauftrage der Bundesregierung Kerstin Claus zugestimmt. Da scheint also vielleicht jetzt auch in Berlin ein etwas anderer Wind zu wehen - wie Beurteilen Sie das als Betroffener?

Haucke: Ich glaube, es ist der Wind, der immer wehte. Und der heißt: Nur wer verstanden hat, was Kinder in sich tragen und wie Biografien durch sexualisierte Gewalt ein Leben lang beeinflusst werden, nur wer das wirklich verstanden hat, der ist wirklich bereit, den Missbrauch effektiv zu bekämpfen. Nur wer diese Verantwortung für sich sieht, handelt auch.

Was sich jedenfalls geändert hat, sind die Umgebungsbedingungen. Dass ich hier als Mitbegründer des Instituts für Prävention und Aufarbeitung sprechen kann, ist eine jüngere Entwicklung. Natürlich wird in diesem Institut immer wieder diskutiert: Was ist eigentlich Aufarbeitung? Welche Standards braucht es für gelingende Aufklärung und Aufarbeitung? Wer soll beteiligt werden? Welche Qualifikationen sind erforderlich?

Auch die Professionalisierung Betroffener hat zugenommen. Der Eckige Tisch z.B. hat durch seine jahrelange Öffentlichkeits- und Beratungsarbeit – übrigens bisher ohne öffentliche Unterstützung – ein Netzwerk für die Arbeit mit Betroffenen aufgebaut. In Köln hat der Verein "Umsteuern" vor kurzem eine Anlaufstelle für Betroffene sexueller Gewalt durch kirchliche Mitarbeiter eröffnet.

Das alles sind übrigens Entwicklungen, an denen sich weder die Täterorganisationen noch der Staat essentiell beteiligt haben.

Karl Haucke

"Wir brauchen starke Netzwerke und die strukturierte politische Anbindung von Betroffenenexpertise in kirchlichen und gesellschaftlichen Gremien sowie auf Länderebene."

DOMRADIO.DE: Was muss Ihrer Meinung nach dringend getan werden?

Haucke: Wir brauchen eine gesetzliche Verankerung für des Gesetz der Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Missbrauchs. Wir brauchen das Recht auf Aufarbeitung – und das Gegenstück dazu: Die Pflicht zur Aufarbeitung. Dort können alle Zusammenhänge geregelt werden, über die wir heute gesprochen haben. Eben auch, dass der Staat der Kirche auf die Finger schauen muss, das selbstreferentielle und selbstherrliche Verhalten dieses Systems endlich beenden muss. Wir brauchen starke Netzwerke und die strukturierte politische Anbindung von Betroffenenexpertise in kirchlichen und gesellschaftlichen Gremien sowie auf Länderebene.

Lassen Sie mich bitte als Opfer priesterlicher Gewalt und systemischer Macht durch Kirche noch etwas zu dem aktuellen Signal aus Rom sagen, neue Ideen für kirchliche Strukturen, für Leitung, Lehre und Moral seien unzulässig – dies ist die knappe Formel, auf die man es bringen kann.

Wenn nun die deutschen Bischöfe nicht endlich aufstehen, wenn sie weiterhin versuchen, gegenüber der Macht aus Rom neutral zu bleiben, so ist ihnen mit den Worten von Elie Wiesel vorzuhalten: "Man muss Partei ergreifen. Neutralität hilft dem Unterdrücker, niemals dem Opfer. Stillschweigen bestärkt den Peiniger, niemals den Gepeinigten."

Und die Gepeinigten – das ist in diesem Falle das Christenvolk.

Das Interview führte Uta Vorbrodt.

Quelle:
DR
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