Betroffenenrat fordert breit angelegte Aufarbeitung

Nicht nur "Tatkontext katholische Kirche"

Gemeinsam haben die Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, der Betroffenenrat und die Aufarbeitungskommission einen Dialogprozess gestartet. Karl Haucke schaut auf die Auftaktveranstaltung zurück und formuliert seine Erwartungen.

Symbolbild: Sexualisierte Gewalt / © Jan Woitas (dpa)
Symbolbild: Sexualisierte Gewalt / © Jan Woitas ( dpa )

DOMRADIO.DE: Wie ist es zur Initiierung des Dialogprozesses zu Standards der Betroffenenbeteiligung im Kontext institutioneller Aufarbeitung gekommen?

Karl Haucke / © Lino Mirgeler (dpa)
Karl Haucke / © Lino Mirgeler ( dpa )

Karl Haucke (Mitglied im Betroffenenrat bei der Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs/UBSKM): Die Idee ist schon einige Jahre alt. Während der Arbeit an der "Gemeinsamen Erklärung zu Standards und Kriterien der Aufarbeitung sexualisierter Gewalt", damals zwischen der AG "Aufarbeitung Kirchen" beim Amt UBSKM und dem Missbrauchsbeauftragten der Deutschen Bischofskonferenz, wurden sehr bald zwei Dinge deutlich: Zum einen darf es derartige Standards nicht nur für die Aufarbeitung im "Tatkontext katholische Kirche" geben; es bedarf der Beschreibung von Zielen und Aufgaben der Aufarbeitung auch für Tatzusammenhänge wie Sport, Schulen und weiteren Institutionen.

Zum anderen ist die Partizipation Betroffener in solchen Prozessen unverzichtbar. Unsere Beteiligung ist ein Schlüssel, um die Machtstrukturen und Systeme, die sexualisierte Gewalt möglich machen, zu identifizieren. Dies sind wesentliche Gründe, warum die Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs den Dialogprozess jetzt angestoßen hat, zu einem Zeitpunkt, da sich immer mehr Aufarbeitungsaufgaben stellen.

Karl Haucke

"Partizipation, Dialog, Augenhöhe, Mitsprache, Ergebnisoffenheit sind wesentliche Merkmale dieses neuartigen Formats."

Und ganz entscheidend daran ist: Der Dialogprozess ist partizipativ von Anfang an. Partizipation, Dialog, Augenhöhe, Mitsprache, Ergebnisoffenheit sind wesentliche Merkmale dieses neuartigen Formats.

DOMRADIO.DE: Der Dialogprozess ist bis Mitte 2025 angelegt. Was soll am Ende dieses Prozesses stehen?

Haucke: In Betroffenenräten und -beiräten, in diözesanen Aufarbeitungskommissionen, in Forschungsgruppen und anderen institutionellen Aufarbeitungszusammenhängen braucht es Gewissheiten über die Vorgehensweisen: Wie kann ein Gremium zur Aufarbeitung sich konstituieren und konsolidieren? Welche materiellen und personellen Ressourcen müssen in ein solches Gremium investiert werden?

Was ist der Unterschied zwischen Aufklärung und Aufarbeitung? Wie wird mit dem Thema Datenschutz und dem Zugang zu Archiven umgegangen? Was bewirkt Betroffenenpartizipation und wie kann sie funktionieren? Was bedeutet Unabhängigkeit gegenüber dem Auftraggeber in Aufarbeitungsprozessen? Auf diese und andere Fragen sucht der Dialogprozess Antworten.

Dabei soll in gewissen Hinsichten ergebnisoffen vorgegangen werden: Es gibt keine Vorgabe, ob am Ende eine schriftliche Dokumentation, ein Fachtag oder ein anderes Ergebnis stehen wird. Eines ist klar: Allen Beteiligten geht es um Handlungssicherheit und um ethisch vertretbare Grundlagen für die Aufarbeitung sexualisierter Gewalt im institutionellen Kontext. 

DOMRADIO.DE: Anfang November fand in Berlin die Auftaktsitzung mit Betroffenen, Institutionen und unabhängigen Experten statt. Mit welchen Eindrücken sind Sie aus dieser Sitzung gekommen?

Haucke: Ich war nach diesen zwei Tagen sehr bewegt. Ich gehöre mit elf anderen Experten aus dem Arbeitsstab der UBSKM, aus der Aufarbeitungskommission des Bundes, aus dem Betroffenenrat und weiteren Fachleuten zum Planungs- und Vorbereitungsteam für diesen Prozess.

Karl Haucke

"Wenn wir nicht aus unseren Biografien erzählen, dann kann unser Erfahrungswissen nicht für die institutionelle Aufarbeitung genutzt werden."

Wir hatten am ersten Tag zu einem Treffen allein der mitwirkenden Betroffenen eingeladen. Schon dabei wurde deutlich, wie wichtig die Betroffenenperspektive für das Nachdenken über Aufklärung und Aufarbeitung ist. Wenn wir nicht aus unseren Biografien erzählen, dann kann unser Erfahrungswissen nicht für die institutionelle Aufarbeitung genutzt werden.

Am zweiten Tag haben wir dann mit den Betroffenen und den übrigen Teilnehmern des Gesamtprozesses versucht, erste Themenfelder zu identifizieren und einzugrenzen, die im Diskurs jedenfalls nicht fehlen dürfen.

DOMRADIO.DE: Welche Institutionen sind an diesem Dialogprozess beteiligt? Sind auch Vertreter kirchlicher Institutionen dabei?

Haucke: Ja, natürlich auch Vertreter:innen der Kirchen. Das Feld der Mitwirkenden im Dialogprozess besteht aus drei Säulen. Es hatten sich auf unsere Ausschreibung hin rund 200 Betroffene zur Teilnahme gemeldet; nach Kriterien wie Alter, Geschlecht, Tatkontext und Engagement in schon bestehenden Aufarbeitungsprozessen wurden dann, paritätisch bezogen auf die Anmeldezahlen, rund 60 Betroffene zur Mitwirkung benannt.

Weiterhin haben wir Vertreter:innen aus Institutionen, die bereits Aufarbeitungsprozesse angestoßen haben sowie aus erfahrenen Forschungsgruppen angeschrieben, am Schluss kamen rund 60 institutionelle Vertreter:innen und 40 sog. Unabhängige Aufarbeiter:innen zusammen.

Da wir wissen, dass wir am Ende des Dialogprozesses nicht etwa ein "Gesetz" über Standards vorlegen können, ist uns eine breite Beteiligung sehr wichtig. Nur so können wir eine ausgedehnte Bereitschaft erreichen, die erarbeiteten Grundsätze der Betroffenenbeteiligung, Ziele und Aufgaben von Aufarbeitung als verbindlich anzusehen: Wer mitreden konnte, steht am Ende eher dahinter.

DOMRADIO.DE: Sie beobachten kritisch die Aufarbeitung sexualisierter Gewalt in der katholischen Kirche. Wie erleben Sie diese im Unterschied zum neu initiierten Dialogprozess der UBSKM und was können beide Institutionen voneinander lernen?

Haucke: Zunächst: Es geht ja um das gemeinsam Lernen vieler. Nicht allein UBSKM und die Kirchen sind Akteure, sondern auch Menschen aus anderen Tatkontexten sind dabei, sowie Fachleute, die bereits Aufklärungs- und Aufarbeitungsprozesse erfolgreich gestaltet haben. Und vor allem Betroffene mit ihrem Erfahrungswissen.

Karl Haucke

"Wir wollen keine an Interessen der Kirchenleitungen orientierte sogenannte Aufarbeitung mehr wie beispielsweise im Erzbistum Köln."

Hier können Vertreter*innen der Kirchen nicht mehr auf ihrer alleinigen Deutungshoheit bestehen. Die anderen Beteiligten werden sehr wachsam sein, dass die Einseitigkeitsfehler nicht fortgesetzt werden können. Unabhängigkeit der Prozesse ist ein wesentliches Stichwort. Wir wollen keine an Interessen der Kirchenleitungen orientierte sogenannte Aufarbeitung mehr wie beispielsweise im Erzbistum Köln.

DOMRADIO.DE: Was wird jetzt bis Mitte 2025 im Dialogprozess geschehen?

Haucke: Zeitlich gesehen ist der Arbeitsprozess aufgeteilt in drei Zyklen mit jeweils drei digitalen Treffen in regelmäßigen Abständen auf der Ebene von Arbeitsgruppen. Die AGs setzen sich u.a. mit strukturellen Anforderungen für gelingende Betroffenenbeteiligung, mit bisherigen Erfahrungen dazu und mit der Kommunikation auf Augenhöhe in Aufarbeitungsprozessen auseinander.

Die Zyklen werden jeweils zusammengefasst und abgerundet bei zweitägigen plenaren Präsenztreffen. Für eine präzise und kontinuierliche Ergebnissicherung ist gesorgt.

DOMRADIO.DE: Was sind Ihre persönlichen Erwartungen an das Ergebnis dieses Prozesses? 

Haucke: Ich bin sehr gespannt auf das breite Wissen und das umfangreiche Meinungsspektrum, das in diesen Prozess einfließen wird. Und eine bisher noch geheime, ganz persönliche Hoffnung hege ich: Dass es uns gelingt, uns in diesem Diskurs auch dem anderen großen gesamtgesellschaftlichen Thema anzunähern, nämlich der Aufarbeitung von sexueller Gewalt im Bereich der Familie.

Die Fragen stellte Jan Hendrik Stens.

Missbrauchsbeauftragte will klare Regeln für Betroffenen-Beteiligung

Die Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Kerstin Claus, will Regeln für die Beteiligung von Betroffenen an Aufarbeitungsprozessen erarbeiten. Sie erklärte am 2. November in Berlin, bisher habe es immer wieder Konflikte gegeben, weil die Mitarbeit von Betroffenen nicht klar und verbindlich geregelt sei. Es müsse sichergestellt werden, dass ihre Perspektive "von Anfang an gleichberechtigt" eingebracht werde und Entscheidungen gemeinsam getroffen würden, erklärte die Missbrauchsbeauftragte.

Kerstin Claus / © Bernd von Jutrczenka (dpa)
Kerstin Claus / © Bernd von Jutrczenka ( dpa )
Quelle:
DR