Bestseller-Autor Lütz verteidigt Kirche gegen Vertuschungsvorwürfe

"Ein Bischof ist doch nicht wahnsinnig"

Manfred Lütz hat die deutschen Bischöfe gegen den Vorwurf verteidigt, mit Missbrauchsfällen in der Kirche nicht transparent umzugehen. Seit den neuen Leitlinien von 2002 habe sich "viel getan", so der bekannte Kölner Arzt und Theologe. Im domradio.de-Interview spricht er über die psychologischen Folgen für Opfer, Missverständnisse und falsche Kommunikation in der aktuellen Debatte.

 (DR)

domradio.de: Können Sie verstehen, dass Missbrauch im Dunstkreis der Kirche für besonders großes Entsetzen sorgt?
Lütz: Man muss erstmal sagen, dass die Kirche seit den Leitlinien 2002 sehr viel getan hat. Und dass an der Jesuitenschule Canisius-Kolleg die Dinge herausgekommen sind, hat ja auch damit zu tun, dass sich die Orden an diese Leitlinien angeschlossen haben und dass es da eine Beauftragte gab, die das offensichtlich auch sehr gut getan hat und man dann auch transparent an die Öffentlichkeit gegangen ist. Das habe ich für sehr sinnvoll gehalten. Dann ist in der öffentlichen Debatte natürlich einiges durcheinander gegangen in der Folgezeit. Das eine ist, dass man nicht richtig wahrgenommen hat, dass das Altfälle sind - schlimm genug, die Opfer leiden heute noch darunter -, aber es entstand manchmal der Eindruck: Wir können jetzt unserem Pfarrer vor Ort nicht mehr trauen. Dabei muss man sagen, dass wir seit Wochen eine Kampagne in Deutschland haben: Opfer meldet Euch. Was ja auch gut ist. Aber sehr auffällig ist es, dass aus den letzten acht Jahren eigentlich so gut wie keine Fälle bekannt wurden. Es gibt natürlich einzelne Fälle, das ist klar. Aber wenn man mal die Proportionen sieht, erkennt man, dass die bei weitem meisten Opferfälle in den 70er und 80er Jahren waren, dann noch in den 90er Jahren einige, aber jetzt aus den letzten acht Jahren so gut wie keine. Das ist wirklich so. Und ich glaube, das ist auch ein Erfolg der Leitlinien und auch der größeren Transparenz, die wir da jetzt haben. Und auch das größere öffentliche Bewusstsein des Ganzen.

Es ist natürlich die katholische Kirche besonders betroffen, insofern als wenn ein Priester so etwas tut, das besonders schlimm ist. Das muss man auch mal sagen. Ein Priester ist in einer Vater-Rolle, das hat etwas Inzestuöses ein solcher Missbrauch. Außerdem ist er für einen gläubigen Jugendlichen ein Repräsentant des lieben Gottes ja fast. Wenn der missbraucht, dann bedeutet das, dass das Grundvertrauen in Menschen verloren gehen kann. Wenn so eine Vaterfigur jemanden missbraucht! Das kann auch bedeuten, dass jemand nie mehr ein vernünftiges Verhältnis zu Gott bekommt, was ja für uns Katholiken auch etwas ganz besonders Schlimmes ist, das regt jetzt die säkulare Gesellschaft nicht so auf, das ist aber auch etwas existenziell Schlimmes. Das heißt jede Vertuschung, aber auch jedes Runterhängen dieses Problem ist ganz falsch. Und auch zu sagen: Die anderen sind ja genau so schlimm. Das wäre eine Ablenkung.

Dennoch muss man sagen: Wir müssen schon auch versuchen - auch im Sinne der Opfer - mit dem Thema sachgerecht und vernünftig umzugehen, auf dem Stand der heutigen Wissenschaft. Das heißt man darf zum Beispiel nicht, wie das in der Öffentlichkeit in den letzten Wochen manchmal passiert, diese Täter alle zu Monstern machen. Damit schädigt man Opfer. Das wissen viele Leute gar nicht. Weil Opfer häufig zu den Tätern ein ganz ambivalentes Gefühl haben. Einerseits fühlen sie sich hingezogen zu dem großen Priester, Lehrer und und und, andererseits sind die angeekelt. Und diese Ambivalenz der Gefühle macht Opfer fertig häufig. Und wenn man jetzt Täter zu Monstern stilisiert, dann trauen sich viele Opfer gar nichts zu sagen, weil so haben sie ja den Täter gar nicht wahrgenommen.

Wir müssen eine öffentlich differenzierte Debatte bekommen, Gott sei dank klappt das jetzt aber auch. Es ist klar: Es ist nicht besonders die katholische Kirche betroffen, es sind in der Tat alle Einrichtungen von diesem Problem betroffen, in denen Erwachsene an Kinder und Jugendliche kommen. Das sind die Kirchen natürlich, das sind Schulen, das sind Jugendvereine, die meisten Fälle hat man aus diesem Bereich, gar nicht in der Kirche. Die kirchlichen Fälle sind natürlich besonders spektakulär, kommen dann auch in die Öffentlichkeit, so das hier ein Häufigkeitseindruck entsteht, der so nicht stimmt. Aber noch mal: Es geht hier nicht um eine Bagatellisierung des kirchlichen Problems. Man muss in der Kirche selbst sehen, dass man noch mehr tut, dass man noch mehr auf der Linie weiterfährt, die jetzt mit den Leitlinien schon begonnen hat, transparent sein, klar sein Opfern gegenüber, klare Entscheidungen auch den Tätern gegenüber, da gibt es sicherlich auch noch einiges zu tun.

domradio.de: Sie haben 2003 im Vatikan einen Kongress gegen sexuellen Missbrauch organisiert…
Lütz: Ich bin Mitglied in der päpstlichen Akademie für das Leben. Und diese Akademie hat damals auf meine Anregung hin einen Kongress organisiert, an dem Mitarbeiter aus allen Kurienbehörden teilnahmen, die mit diesem Thema zu tun haben. Damals waren die international bedeutendsten Fachleute eingeladen - alle übrigens nicht katholisch. Mir war damals wichtig, dass die Kurie hier auch informiert ist über diese Dinge. Papst Johannes Paul II. hatte damals alle diese Verfahren nach Rom gezogen, was die internationale Öffentlichkeit sehr positiv aufnahm. Da fand ich wichtig, dass sich die Kurie auch auskennt mit diesem Bereich. Und eine der Konsequenzen dieses Kongresses wurde dann 2004 publiziert, das war zufällig gleichzeitig mit der Publikation der us-amerikanischen Studien. Und eine Konsequenz war, dass man nicht sagen kann: Es gibt da Pädophile, die sind nicht behandelbar und ganz gefährlich, und es gibt die Täter, die Opfer haben, die älter als 13 sind - die sind dann halb so schlimm und die könne man therapieren. So ist es eben nicht, das ist ein Ergebnis des Kongresses. Man muss individuelle Risikoprofile machen.

domradio.de: Die deutschen Bischöfe haben Sie auch jetzt wieder um Rat gebeten - was haben Sie ihnen gesagt?
Lütz: Es gibt verschiedene Ebenen. Die eine Ebene ist die, die ich eben schon genannt habe: Man muss sehen, dass man die Leitlinien wirklich konsequent umsetzt. Das andere ist: Man muss die Dinge nach außen hin auch gut kommunizieren. Im ersten Moment wurde ja gar nicht klar, dass das im Wesentlichen Altfälle sind. Am Anfang wurde der Eindruck erweckt, die Kirche würde am Staat vorbei eigene Verfahren durchführen - was einfach nicht stimmt. Ich fand das schon sehr irritierend, dass das sehr lange so in der Öffentlichkeit gesagt wurde, obwohl es wirklich falsch ist. Ich habe da schon ein bisschen Überblick über die letzten Jahre: Wenn irgendein Fall auftritt, drängen die Bischöfe zur Staatsanwaltschaft zu gehen. Ein Bischof ist doch nicht wahnsinnig. Wenn ein solcher Verdacht aufkommt! Das ist ja bei einem Priester nicht irgendwas. Dann ist es im Interesse des Bischofs und der Kirche wichtig, möglichst schnell den Staatsanwalt einzuschalten. Allerdings muss man immer dabei auch bedenken: Gerade die Opferverbände haben Wert darauf gelegt, dass eine Anzeigenpflicht - wie sie anfangs irrtümlich von der Justizministerin postuliert wurde - die gar nicht besteht. Eine Anzeigepflicht wurde damals nicht ins Gesetz aufgenommen, damit Opfer nicht abgeschreckt werden. Es gibt Opfer, die nicht wollen, dass der Täter angezeigt wird. Die wollen aber, dass der unschädlich gemacht wird.

Das Gespräch führte Hilde Regeniter in der Sendung domradio.de "Menschen".