Beitrag von DGB-Chef Sommer zum "Kapital" von Erzbischof Marx

"Streitschrift gegen den Casino-Kapitalismus"

Michael Sommer ist Bundesvorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbundes. Für die Katholische Nachrichtenagentur hat der 56-jährige "Das Kapital" von Erzbischof Reinhard Marx gelesen. Sein Fazit: Ein publizistischer Coup inmitten der Finanz- und Wirtschaftskrise.

 (DR)

Mit Veröffentlichung seines Buches "Das Kapital - Ein Plädoyer für den Menschen" hat Reinhard Marx, Erzbischof von München und Freising und profilierter Vertreter der Katholischen Soziallehre, punktgenau einen publizistischen Coup inmitten der Finanz- und Wirtschaftskrise gelandet - eine Krise, die einen Epochenbruch markiert. Denn spätestens jetzt zeigt sich, dass ein radikaler Marktliberalismus nur Eigennutz und soziale Verantwortungslosigkeit stärkt und befördert und weder Gerechtigkeit noch Wohlstand garantiert. Im Gegenteil, die Kluft zwischen Arm und Reich wurde weiter aufgerissen.

Für Reinhard Marx ist es daher an der Zeit, in der globalen Wirtschaft Regeln zu vereinbaren, die einem Kapitalismus pur Einhalt gebieten. Ausgehend vom absoluten, inneren Wert jedes einzelnen Mensch fordert er ein Umdenken, das wieder eben diesen Wert statt den Mehrwert marktwirtschaftlichen Handelns in den Mittelpunkt stellt. In seinem Buch geht es um mehr als um eine Auseinandersetzung mit dem Kapitalismus. Es geht ihm um eine sozialethische Fundierung gesellschaftlichen Zusammenlebens, zu dem auch Manager und Unternehmer beitragen sollten. Auch die Gewerkschaften fordern nachdrücklich, die Krise zu einer Aufarbeitung des Casino-Kapitalismus und zur Schaffung neuer, sozialer Regeln für die Marktwirtschaft und ihre Teilnehmer zu nutzen. Ein Weiter-so-wie-bisher darf es nicht geben.

Zugegeben: Die Namensgleichheit mit dem Urautor des Kapitals und dessen Wiederentdeckung im öffentlichen Erklärungsdiskurs über die Ursachen des Finanzcrashs ist eine Motivation für verunsicherte Wirtschaftswissenschaftler und Unternehmer, nach Reinhard Marx'
Streitschrift zu greifen. Eine Rezeption allerdings, die seine über 300 Seiten langen Ausführungen auf eine Auseinandersetzung zwischen Religion und Marxismus reduziert, könnte sich mit dem einleitenden fiktiven Schreiben Marx an Marx begnügen.

Bis zum Ende lesen!
Es lohnt sich aber allemal, das nicht nur mit theologischem, sondern auch mit philosophischem, sozialwissenschaftlichem und ökonomischem Wissen gespickte Buch zu Ende zu lesen. Auf Seite 297 fasst er sein sozialethisches Credo folgendermaßen zusammen: "Der Sozialstaat ist eine nicht nur moralisch, sondern politisch und ökonomisch notwendige Bedingung für den Fortbestand der Markwirtschaft." Das sehen auch die Gewerkschaften so.

Vor dem Hintergrund zunehmender Arbeitslosigkeit und wachsender gesellschaftlicher und sozialer Spaltung plädierten die beiden großen Kirchen 1997 in ihrem "Gemeinsamen Wort zur sozialen und wirtschaftlichen Lage" dafür - Reinhard Marx war maßgeblich daran beteiligt -, dass Solidarität und Gerechtigkeit zu Maßstäben einer künftigen und nachhaltigen Wirtschafts- und Sozialpolitik werden sollten, da ein Ausgleich der Interessen durch die freie Marktwirtschaft nicht gewährleistet sei. Bedauerlicherweise ist das Gemeinsame Wort im letzten Jahrzehnt in Vergessenheit geraten. Marx'
Buch erinnert daran und ist daher ein notwendiger Beitrag, die Kirche nicht nur als "Institution der Moral", sondern als "öffentliche Kirche" wahrzunehmen, wie es einmal der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Bischof Wolfgang Huber, formuliert hat.

Es ist dem Buch und vor allem den darin enthaltenden Vorschlägen - wie zum Beispiel zur steuer- und sozialpolitischen Besserstellung von Familien oder zur gesetzlichen Einführung von Mindestlöhnen in Bereichen, in den mit Dumpinglöhnen gegen die guten Sitten verstoßen wird - zu wünschen, dass es nicht der Halbwertzeit der medialen Aufmerksamkeitsökonomie zum Opfer fällt, sondern einen wichtigen Impuls zu einer politisch sicherlich kontrovers zu führenden Zukunftsdebatte liefern wird.