Begnadigung gehört seit Tausenden Jahren zu Rechtsgeschichte

Wie einst Pontius Pilatus

Der Bundespräsident macht manchmal das Gleiche wie einst Pontius Pilatus. Er begnadigt einen Verurteilten.

Autor/in:
Irene Dänzer-Vanotti
 (DR)

Auch Gnadenrichter, die an deutschen Landgerichten Gnadengesuche prüfen, bewegen sich in der Nachfolge des aus der Bibel bekannten römischen Statthalters in Judäa, der Jesus Christus verurteilte und gleichzeitig einen Räuber begnadigte.

Zuletzt war es Horst Köhler, der über Gnade für Terroristen entscheiden musste und damit in einer bis in die Antike reichenden Tradition steht. Dass Jesus Christus den Foltertod am Kreuz sterben musste, daran erinnern Christen am Karfreitag vor dem Osterwochenende.

Die vier Evangelisten Matthäus, Markus, Lukas und Johannes berichten in ihrer Darstellung des Prozesses gegen Jesus Christus von der Begnadigung eines Mitverurteilten. Rein rechtlich unterscheidet sich dies aus Sicht heutiger Rechtsexperten nicht vom Gnadenakt eines Bundespräsidenten. "Das ist ein klassischer Begnadigungsakt", findet auch der Frankfurter Rechtshistoriker Michael Stolleis mit Blick auf die Berichte der Bibel.

Pontius Pilatus, so heißt es etwa im Matthäus-Evangelium, hatte die Gewohnheit, an Festtagen einen Gefangenen zu begnadigen. Im Jesus-Prozess zum jüdischen Passah-Fest überließ er allerdings dem Volk die Wahl, wer frei kommen sollte. Die Schaulustigen konnten sich zwischen Barrabas, der mit Vornamen auch Jesus hieß, und "Jesus, von dem gesagt wird, er sei der Christus", entscheiden. Die Menschen wählten Barrabas, den Räuber.

Ähnlichkeit mit dem biblischen Gnadenakt
Bis ins frühe 20. Jahrhundert nahmen Kaiser und Könige das Recht der Begnadigung für sich in Anspruch. Sie konnten so ihre erhabene Stellung, ihre Ähnlichkeit mit Gott unter Beweis stellen, wie Stolleis, ehemaliger Direktor des Max-Planck-Instituts für Europäische Rechtsgeschichte in Frankfurt, erläutert. Gnade gelte als eine Huld, die ein Mensch nicht verdienen, sondern die ihm nur von einer höheren Macht zugesprochen werden kann. Auch Diktatoren stellten ihre Machtfülle dar, indem sie Gnade walten ließen. Hitler etwa gab Gnadengesuchen statt. Einem der bekannteren - dem Gnadengesuch der Eltern der Geschwister Scholl - dagegen nicht.

Das 1949 verabschiedete Grundgesetz der Bundesrepublik spricht dem Bundespräsidenten das Recht auf Begnadigung zu, allerdings nur für Verbrecher, die von der Bundesanwaltschaft angeklagt wurden. Anders als bei Pontius Pilatus hat das Volk keinen Einfluss auf seine Entscheidung. "Trotzdem hat die Entscheidung Ähnlichkeit mit dem biblischen Gnadenakt. Auch der Bundespräsident entscheidet unabhängig von einem Gesetz und muss seinen Beschluss nicht begründen", sagt der Jurist Michael Stolleis.

Das Gnadenrecht ist eine eigene Rechtsfigur. Sie steht neben dem übrigen Recht, weil hier nicht Gesetze gelten, sondern die Entscheidung einer Person. Köhler lehnte die Gnadengesuche der ehemaligen RAF-Terroristen Christian Klar und Birgit Hogefeld ab.

Seine Vorgänger begnadigten sieben RAF-Mitglieder. Richard von Weizsäcker bezeichnete Gnade als "die Stütze der Gerechtigkeit". Für Menschenrechtsexperten weltweit gilt, dass in Ländern, in denen die Todesstrafe verhängt wird, Gnadengesuche besonders dringlich sind.

Kein Einzelfall
Im deutschen Rechtsalltag wird relativ oft Gnade gewährt. Der Richter Christoph Märten ist Gnadenbeauftragter des Landgerichts Wuppertal. Ihn erreichen Gesuche von Menschen, die verurteilt wurden und zum Beispiel erreichen möchten, dass sie die Haft später antreten als vom Gericht vorgesehen. Er begnadigt auch Verurteilte, denen eine Gefängnisstrafe erheblichen Schaden zufügen würde.

Wenn ein wegen Drogenmissbrauchs Verurteilter belegen könne, dass er in einer Therapie "clean" geworden sei, könne das der Fall sein, erläutert Märten. "In der Haft könnte er rückfällig werden." Allerdings lässt der Richter nur in fünf Prozent der Gesuche Gnade vor Recht ergehen. "Wir können nicht den Fall neu aufrollen, sondern nur Härtefälle ausgleichen."

"Er ist zu Unrecht verurteilt worden"
Der Angeklagte Jesus Christus war kein Härtefall, wie Johannes von Lüpke, Professor für systematische Theologie an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal-Bethel, betont. "Er ist zu Unrecht verurteilt worden." Im Prozess um Jesus sei das weltliche Recht auf den Kopf gestellt worden. "Der Schuldige wird begnadigt, der Unschuldige dagegen verurteilt." Aus dieser widersinnigen Situation erwachse aber eine zentrale Qualität des Christentums: "Jesus musste leiden und sterben und nahm so die Sünden der Menschen auf sich." Durch seinen gnadenlosen Tod werde den Menschen die Gnade zuteil, die sie aus eigenem Handeln und eigener Kraft nicht gewinnen könnten.

Von Lüpke weist darauf hin, dass die Verhältnisse mehrfach verdreht sind in diesem Prozess: "Der Angeklagte, nicht der Kläger, vertritt die Wahrheit, mehr noch, Gottes Sohn wird wegen Gotteslästerung verurteilt." Bis heute diskutieren Theologen, ob Jesus Christus vielleicht nach dem Urteil um Gnade gebeten hätte, wenn Gott ihm nicht eine höhere Aufgabe für die Welt zugedacht hätte.