Bagdads Erzbischof Sleiman über die Lage der Christen im Irak

"Ich schreie für den Frieden und die Menschenwürde"

Der katholische Erzbischof von Bagdad, Jean Benjamin Sleiman, warnt vor der Vernichtung von Minderheiten im Irak. Im Interview mit der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) äußerte sich der gebürtige Libanese, der seit 2001 in der irakischen Hauptstadt lebt, am Sonntag in Würzburg über die Lage der Christen im Irak und die Zukunft des Landes.

Stellte in Würzburg sein Buch vor: Erzbischof Jean Sleiman  (KNA)
Stellte in Würzburg sein Buch vor: Erzbischof Jean Sleiman / ( KNA )

KNA: Herr Erzbischof Sleiman, Sie sprechen von Ihrem Aufschrei.
Warum so laute Töne?
Sleiman: Ich schreie für den Frieden und für die Menschenwürde. Die Minderheiten im Irak werden vernichtet. Der irakische Staat ist zerstört, seither herrscht das Recht des Stärkeren. Es leiden nicht nur die Christen, sondern auch andere Minderheiten. Für sie alle schreie ich.

KNA: Sie sprechen über die Emigration der Christen «vom Ausbluten, das niemand stillen kann». Die EU will jetzt irakische Flüchtlinge aufnehmen. Fördert das nicht den von Ihnen beklagten Prozess?
Sleiman: Ich fürchte, dass es so ist. Ich möchte mich nicht gegen eine humanitäre Hilfe stellen - im Gegenteil. Die Lage ermutigt auch zu emigrieren. Aber genau das ist das Problem: Wie kann man den Flüchtlingen helfen, vor allem denen in den angrenzenden Ländern, ohne die anderen zu ermutigen, ihnen nachzukommen.

KNA: Haben Sie eine Lösung?

Sleiman: Die einzige Lösung ist ein funktionierender Rechtsstaat.  Ich habe mit meinen eigenen Augen gesehen, dass die Christen schutzlos geworden sind, weil der Staat zusammengebrochen ist.

KNA: Sie schreiben, die neue Freiheit hat den Christen nichts genutzt. Warum leiden sie unter dem Sturz des Regimes?

Sleiman: Das Schlimme war, dass nach dem Sturz Saddams alle Institutionen weggefegt worden sind, etwa die Armee und alle anderen Sicherheitskräfte. Es gab keine Gerichte mehr, keine Behörden. Der Irak war also drei Monate ohne eine Autorität. Die Menschen im Irak hatten keine Erfahrung mit der Freiheit. Deshalb schätzten sie diese nicht besonders. Und es gab keinen Schutz für die Freiheit. Also auch keinen Schutz vor den Fundamentalisten.

KNA: Es wird immer wieder behauptet, unter Saddam Hussein hätte so etwas wie Religionsfreiheit geherrscht. War das Leben der Christen unter der Diktatur wirklich besser?
Sleiman: Ich habe niemals Saddam nachgeweint. Aber vielleicht bin ich einer der wenigen, der Saddam entmythologisiert hat. Für viele war er der Verteidiger der Christen. Doch genau das war er nicht.

Saddam hat die Seele der Christen getötet. Sie starben nicht auf der Straße. Sie haben aber den Sinn für die Wahrheit, die Freiheit, die eigene Würde und für Gott verloren. Denn der Tyrann trat an die Stelle Gottes.

KNA: Die evangelikalen Kirchen sprechen nicht von einem Ausbluten. Machen die anderen Kirchen im Irak etwas falsch?
Sleiman: Die Evangelikalen kamen mit der amerikanischen Armee. Und sie haben den Krieg gerechtfertigt. Hinter ihnen stand der Neokonservativismus der USA - auch mit sehr großen finanziellen Mitteln. Sie wollten ihre eigenen Gemeinschaften bilden. Und sie haben begonnen, die Muslime zu provozieren. Darunter haben alle Christen gelitten. Wenn sie wirklich im Sinn des Evangeliums hätten wirken wollen, hätten sie den lokalen Kirchen helfen müssen. Denn diese haben in einer langen und schwierigen Geschichte durchgehalten. Den muslimischen Fundamentalisten wirft man vor, Religion und Politik zu vermischen. Die Evangelikalen tun dasselbe.

KNA: Der neue US-Präsident Barack Obama will die amerikanischen Truppen möglichst schnell aus dem Irak abziehen. Was halten Sie davon?

Sleiman: Obama hat beim Treffen mit seinen Militärs etwas Interessantes gesagt: Wir müssen einen verantwortlichen Rückzug antreten. Was heißt verantwortlich? Das heißt nicht, dass sie sich in 16 Monaten zurückziehen, wie es noch im Wahlkampf gefordert wurde. Die Deutschen nennen es Realpolitik, ich spreche von Staatsraison. Obama wird danach handeln. Alles andere wäre eine Katastrophe. Sonst würden die Fundamentalisten das Ruder ganz schnell in die Hand nehmen.

KNA: Wenn denn mal die US-Truppen abziehen - wird es einen freiheitlichen und demokratischen Staat Irak geben?

Sleiman: Ich denke schon, dass der irakische Staat im Moment die Initiative ergreift. Es hat sich schon etwas geändert. Aber es dauert noch lange und es muss noch viel passieren, damit der Staat auch wirklich funktioniert.

Hinweis: Das Buch «Der Aufschrei des Erzbischofs von Bagdad» ist im Würzburger Echter-Verlag erschienen und kostet 12,40 Euro.