Auszüge der Ansprache des Papstes in Ur

 (DR)

Liebe Brüder und Schwestern, dieser gesegnete Ort führt uns zurück zu den Anfängen, zu den Quellen des göttlichen Werkes, zum Ursprung unserer Religionen. Auf diesem Platz vor der Wohnstätte unseres Vaters Abraham scheint es, als würden wir nach Hause zurückkehren. Hier hörte er den Ruf Gottes, von hier aus brach er zu einer Reise auf, die die Geschichte verändern sollte. Wir sind die Frucht dieses Rufs und dieser Reise. Gott forderte Abraham auf, zum Himmel hinaufzusehen und die Sterne zu zählen (vgl. Genesis 15,5). In diesen Sternen sah er die Verheißung seiner Nachkommenschaft, sah er uns. Und heute ehren wir - Juden, Christen und Muslime - gemeinsam mit den Brüdern und Schwestern anderer Religionen unseren Vater Abraham, indem wir es ihm gleichtun: Wir sehen zum Himmel hinauf und gehen unseren Weg auf Erden. (...)

Von diesem Quellort des Glaubens aus, vom Haus unseres Vaters Abraham aus bekräftigen wir: Gott ist barmherzig und die größte Beleidigung und Lästerung ist es, seinen Namen zu entweihen, indem man den Bruder oder die Schwester hasst. Feindseligkeit, Extremismus und Gewalt entspringen nicht einer religiösen Seele - sie sind Verrat an der Religion. Und wir Gläubigen dürfen nicht schweigen, wenn der Terrorismus die Religion missbraucht. Im Gegenteil, es liegt an uns, Missverständnisse durch Klarheit aufzulösen. Lassen wir nicht zu, dass das Licht des Himmels von den Wolken des Hasses verdeckt wird!

In den vergangenen Jahren haben sich über diesem Land die dunklen Wolken des Terrorismus, des Krieges und der Gewalt zusammengebraut. Alle ethnischen und religiösen Gemeinschaften haben darunter gelitten. Ich möchte insbesondere an die jesidische Gemeinschaft erinnern, die den Tod vieler Männer zu beklagen hatte und mit ansehen musste, wie tausende Frauen, Mädchen und Kinder entführt, als Sklaven verkauft sowie körperlicher Gewalt und Zwangskonvertierungen unterworfen wurden. Heute beten wir für alle, die solche Leiden erfahren haben, für alle, die immer noch vermisst und entführt sind, dass sie bald nach Hause zurückkehren. Und wir beten dafür, dass die Gewissensfreiheit und die Religionsfreiheit überall respektiert und anerkannt werden: Dies sind Grundrechte, denn sie machen den Menschen frei, den Himmel zu betrachten, für den er geschaffen wurde.

Als der Terrorismus im Norden dieses werten Landes wütete, zerstörte er auf barbarische Weise einen Teil des wunderbaren religiösen Erbes, darunter Kirchen, Klöster und Gebetsstätten verschiedener Gemeinschaften. Aber selbst in diesem dunklen Moment leuchteten Sterne. Ich denke an die jungen muslimischen Freiwilligen von Mosul, die bei der Wiederinstandsetzung von Kirchen und Klöstern geholfen und so auf den Trümmern des Hasses brüderliche Freundschaften aufgebaut haben, und an die Christen und Muslime, die heute gemeinsam Moscheen und Kirchen restaurieren. (...)

Der Patriarch Abraham, der uns heute in Einheit versammelt, war Prophet des Allerhöchsten. Eine alte Prophezeiung sagt, die Völker werden "ihre Schwerter zu Pflugscharen umschmieden und ihre Lanzen zu Winzermessern" (Jesaja 2,4). Diese Prophezeiung hat sich nicht verwirklicht, aus Schwertern und Lanzen sind vielmehr Raketen und Bomben geworden. Wo kann dann der Weg des Friedens beginnen? Beim Verzicht, Feinde zu haben. Wer den Mut hat, die Sterne zu betrachten, wer an Gott glaubt, der hat keine Feinde, die er bekämpfen muss. Er hat nur einen Feind, dem er entgegentreten muss, der nämlich an der Tür seines Herzens steht und anklopft, um einzutreten: die Feindschaft. Während einige eher danach trachten, Feinde zu haben, als Freunde zu sein, während viele ihren eigenen Vorteil auf Kosten anderer suchen, kann derjenige, der die Sterne der Verheißungen betrachtet, der den Wegen Gottes folgt, nicht gegen jemanden sein, sondern nur für alle. Er kann keine Form von Zwang, Unterdrückung und Missbrauch rechtfertigen, er kann sich nicht auf aggressive Weise gebärden.

(...) Es liegt an uns Menschen heute und vor allem an uns Gläubigen jeder Religion, die Werkzeuge des Hasses in Werkzeuge des Friedens zu verwandeln. (...) Es liegt an uns, den Mut zu haben, den Blick zu erheben und die Sterne zu betrachten, die Sterne, die unser Vater Abraham gesehen hat, die Sterne der Verheißung. (Quelle: kna, 06.03.2021)