Aufstand im Tibet: Franz Alt im Interview mit dem Vertreter des Dalai Lama in Europa

"China reagiert unmenschlich"

In Tibet sind die Proteste gegen die chinesische Herrschaft eskaliert. In der Hauptstadt Lhasa brannten Geschäfte und Autos, wie der britische Sender BBC am Freitag berichtete. Auch Schüsse sollen gefallen sein. Über die sich zuspitzende Lage auf dem Dach der Welt sprach Franz Alt mit dem Vertreter des Dalai Lama in Europa, Kelsang Gyaltsen, der in der Schweiz lebt. Hören Sie auch ein domradio-Interview mit dem Tibet-Kenner Franz Alt.

 (DR)

Franz Alt: Herr Gyaltsen, Agenturen berichten, in dieser Woche sei die Lage in Tibet dramatischer als in den letzten 20 Jahren. Was ist passiert?

Kelsang Gyaltsen: Am 10. März begannen die Demonstrationen mit einem Protestmarsch von 300 Mönchen in die Hauptstadt Tibets, nach Lhasa. Die Mönche kamen aus einem nahe gelegenen Kloster. Am Stadtrand wurden sie von chinesischen Polizisten nieder geknüppelt und zum großen Teil inhaftiert. Die Mönche trugen die Nationalfahne Tibets und forderten mehr kulturelle Autonomie und mehr religiöse Freiheiten. Wir wissen, dass viele der Inhaftierten in dieser Woche im Gefängnis brutal misshandelt und gefoltert wurden.

Franz Alt: Gab es danach weitere Demonstrationen?

Kelsang Gyaltsen: Jeden Tag wurden es mehr. Der Aufstand hat in dieser Woche Klöster in ganz Tibet erfasst. Am Dienstag demonstrierten 600 Mönche, am Mittwoch waren es beinahe 1000 und am Donnerstag gingen erstmals 150 Nonnen auf die Straße.

Immer mehr Mönche und Nonnen marschieren auf Lhasa zu. Die Reaktion der Polizei ist aber jedesmal gleich brutal und unmenschlich. Die Menschenrechte werden mit Füßen getreten. Die Lage ist tatsächlich so angespannt wie seit 1989, seit dem Aufstand am Platz des Himmlischen Friedens, nicht mehr. Damals gab es auch in Tibet heftige Proteste gegen die chinesische Besatzungspolitik und gegen den kulturellen Völkermord, den die Besatzer in meiner Heimat verüben. Die meisten Klöster Tibets sind inzwischen von der Polizei abgeriegelt. Mönche und Nonnen sind praktisch Gefangene.

Franz Alt: Wie reagiert der Dalai Lama, dessen Vertreter in Europa Sie sind? Ruft er zum Boykott der Olympischen Spiele im August in Peking auf, wie es der tibetische Jugendverband im Exil schon getan hat?

Kelsang Gyaltsen: Der Dalai Lama sagt, China als das größte Land der Welt hat das Recht auf die Olympiade. Aber er fügt hinzu, dass die olympischen Regeln verlangen, dass auch China die Menschenrechte einhält. Dazu haben sich Chinas Regierung und das Olympische Komitee schließlich verpflichtet. Der Dalai Lama erwartet, dass die Weltöffentlichkeit, die Regierungen der ganzen Welt und die Teilnehmer und Besucher der Spiele in Peking gegenüber Chinas Regierung auf die Beachtung der Menschenrechte drängen. China selbst sollte daran interessiert sein, nicht vor der ganzen Welt sein Gesicht zu verlieren.

Franz Alt: Haben der Dalai Lama und Sie die Hoffnung, dass sich die Lage in Tibet entspannt und die olympischen Spiele dazu beitragen?

Kelsang Gyaltsen: Wir haben Hoffnungen, aber auch Befürchtungen. Denn China betreibt seine repressive Politik gegen unserem Volk nun schon seit über 50 Jahren. Es wäre schrecklich, wenn China dafür sorgen würde, dass sich vor lauter Angst vor dem Freiheitswillen der Tibeter, die Lage in Tibet vor der Olympiade nicht verbessert, sondern verschlechtert. Aber die schrecklichen Ereignisse in dieser Woche lassen uns Schlimmes befürchten. Jetzt kann uns nur noch der Protest der Internationalen Gemeinschaft helfen. Darauf hoffen wir. Denn es muss für jeden Menschen unerträglich sein, dass andere Menschen dafür geschlagen, verhaftet und gefoltert werden, weil sie sich für politische Freiheit und kulturelle Autonomie einsetzen.

Proteste in Tibet eskalieren
Der Dalai Lama rief zum Gewaltverzicht auf. Der Sender Radio Free Asia (Washington) meldete, viele buddhistische Mönche seien in den Hungerstreik getreten. Die Proteste in Tibet wenige Monate vor den Olympischen Spielen im August in Peking sind die heftigsten seit 1989.

Nach Angaben von Exilorganisationen riegelten Sicherheitskräfte mindestens drei Klöster in Tibet ab. Das geistliche Oberhaupt Tibets, der Dalai Lama, äußerte sich sehr besorgt über die Entwicklung. Die Proteste seien "ein Zeugnis der großen Unmuts des tibetischen Volkes", erklärte er in einer Stellungnahme.

Er forderte die chinesische Führung auf, die Gewalt zu beenden und den Dialog zu suchen. Das tibetische Volk rief er dazu auf, keine Gewalt anzuwenden. Die Mönche hatten am Montag mit Demonstrationen begonnen. Sie erinnerten damit auch an den Volksaufstand in Tibet im März 1959, in dessen Verlauf der Dalai Lama außer Landes floh.

Die Gesellschaft für bedrohte Völker in Göttingen appellierte an den Präsidenten des Internationalen Olympischen Komitees, Jacques Rogge, das Vorgehen der chinesischen Sicherheitskräfte zu verurteilen. „Wegschauen und Ignorieren kann nicht die Lösung sein, um in fünf Monaten 'Spiele der Freude' in Peking zu organisieren", erklärte der Asienreferent der Organisation, Ulrich Delius. Dem Komitee drohe ein Debakel, wenn Chinas Behörden auch im August mit Waffengewalt gegen unbewaffnete Mönche vorgehen würden.

BBC berichtete unter Hinweis auf Augenzeugenberichte, 300 Mönche seien bei dem Versuch, das Sera-Koster zu verlassen, von chinesischen Sicherheitskräften mit Knüppeln zurückgetrieben wurden. Auch in Indien und Nepal haben in dieser Woche Exil-Tibeter demonstriert. Im nordindischen Dharamsala, dem Sitz der tibetischen Exil-Regierung und des Dalai Lama, versammelten sich Aktivisten, um in einem Protestzug nach China zu marschieren. Am Donnerstag wurden sie von indischen Sicherheitskräften gestoppt und festgenommen. Auch in Nepal wurden etwa 100 protestierende Mönche inhaftiert.

Die Menschenrechtsorganisation „Human Rights Watch" forderte die Freilassung der Tibet-Aktivisten in Indien, Nepal und China. Indien erklärte jedoch, dass es Tibetern keinerlei Proteste gegen China auf seinem Staatsgebiet gestatte. Die Regierung habe die Aufgabe, die öffentliche Ordnung aufrecht zu erhalten, zitierte die Zeitung „The Hindu" einen Sprecher des Außenministeriums.

Truppen der kommunistisch regierten Volksrepublik China hatten Tibet 1950/51 besetzt. Später wurde das Gebiet als autonome Region in China eingegliedert. Menschenrechtsorganisationen werfen der chinesischen Regierung massive Verstöße gegen Grundrechte wie die Glaubensfreiheit in Tibet vor. Seit der Besetzung wurden mindestens 6.000 Tempel und Klöster zerstört. Der Dalai Lama wird von Peking separatistischer Bestrebungen beschuldigt. Er gab die Forderung nach Unabhängigkeit jedoch längst auf und setzt sich für eine wirkliche Autonomie ein.