Der tieferliegende Konflikt wurzelt in sozialen, ökologischen und wirtschaftlichen Krisen – Religion ist dabei häufig nur ein Symbol, das alte Spannungen sichtbar macht.
Religion ist in Nigeria ein ausschlaggebender Aspekt des öffentlichen Lebens. Sie übernimmt unter anderem Sektoren bei denen staatliche Institutionen versagen, zudem bietet sie Flüchtlingen neue soziale Netze, Menschen finden Kirchen oder Moscheen Unterstützung.
Doch auch die Aufteilung in Muslime und Christen täuscht, während die Christen im Land sich auf Katholiken, Protestanten, Anglikaner und Evangelikale aufteilen sind auch die Muslime keine Einheit. Die Mehrheit der muslimischen Nigerianer hängt dem sunnitischen Islam an, es existiert jedoch auch eine große schiitische Minderheit, hinzukommen zahlreiche muslimische Sekten und extremistische Gruppierungen.
Ein Land voller Widersprüche
Mit rund 230 Millionen Einwohnern ist Nigeria das bevölkerungsreichste und wirtschaftlich stärkste Land Afrikas und zugleich eines der instabilsten. Über 400 ethnische Gruppen leben dort, mehr als 500 Sprachen werden gesprochen. Die Bevölkerung ist fast genau zur Hälfte christlich und muslimisch geprägt. Dennoch verlaufen die Bruchlinien des Landes nicht entlang religiöser Grenzen, sondern entlang von Armut, Landnutzung und Macht.
Der Norden des Landes ist überwiegend muslimisch, der Süden mehrheitlich christlich, doch die Gewalt trifft beide Seiten. Wie die britische Zeitung "The Guardian" berichtete, sind die meisten Opfer der Konflikte im Norden Muslime. "Religionsfreiheit und Toleranz sind ein zentraler Bestandteil unserer gemeinsamen Identität und das wird auch immer so bleiben“, sagte Präsident Bola Ahmed Tinubu, der 2023 ins Amt gewählt wurde. Nigeria, betonte er, lehne religiöse Verfolgung ab. Doch Worte allein reichen nicht, um ein Land zu stabilisieren, das von wachsender Ungleichheit und Misstrauen in die politischen Eliten geprägt ist.
Klimawandel als Brandbeschleuniger
Die Ursachen der Gewalt liegen vor allem in den Folgen des Klimawandels. In weiten Teilen des Nordens vertrocknen Weideflächen und Wasserstellen. Nomadisch lebende Hirten, häufig Angehörige des Fulani-Volkes, müssen ihre Heimat verlassen und ziehen nach Süden, wo sie auf sesshafte Bauern treffen. Diese reagieren mit Angst und Abwehr, denn das Land wird dort ohnehin knapp.
Immer wieder kommt es zu Überfällen, Plünderungen und Vergeltungsschlägen. Die Hirten vertreiben Bauern, um Weideland zu gewinnen, Bauern wiederum greifen aus Rache zu den Waffen. Aus ökonomischen Konflikten um Land und Nahrung entstehen ethnisch und religiös aufgeladene Kämpfe. Doch wer genauer hinsieht, erkennt: Es geht um Überleben, nicht um Glauben.
Ein Staat im Misstrauen
Präsident Tinubu trat sein Amt 2023 an, bei einer Wahl mit historisch niedriger Beteiligung von nur 29 Prozent. Damit wurde er zwar gewählt, besitzt aber de facto das Vertrauen von weniger als zehn Prozent aller Wahlberechtigten. Sein Versprechen, Korruption zu bekämpfen und die Wirtschaft zu stabilisieren, blieb bislang weitgehend unerfüllt.
Nigeria ist trotz seines Rohstoffreichtums eines der ärmsten Länder der Welt. Rund 40 Prozent der Bevölkerung leben unter der Armutsgrenze, also von weniger als 1,90 US-Dollar pro Tag. Viele Menschen suchen deshalb Halt bei Milizen, religiösen Gruppen oder kriminellen Syndikaten, die Stabilität und Einkommen versprechen. Laut der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) hat sich die Bevölkerung innerhalb von drei Jahrzehnten mehr als verdoppelt, während die wirtschaftliche Entwicklung nicht Schritt hielt – eine "soziale Zeitbombe", wie es dort heißt.
Ölreichtum ohne Wohlstand
Nigeria verdankt seinen Reichtum und gleichzeitig seine Krise dem Öl. Etwa 70 Prozent des Staatshaushalts stammen aus der Öl- und Gasproduktion, die fast vollständig von internationalen Konzernen wie ExxonMobil, TotalEnergies, Shell, Chevron und dem ehemaligen Staatskonzern NNPC kontrolliert wird.
Doch der Profit erreicht die Bevölkerung kaum. Nach offiziellen Schätzungen werden 300.000 bis 400.000 Barrel Öl (bis zu 63,6 Millionen Liter) pro Tag gestohlen, oft mit Beteiligung von Mitarbeitenden von Sicherheitsfirmen und Ölgesellschaften. Im Niger-Delta, einst ein Naturparadies, ist die Umwelt inzwischen massiv zerstört.
Laut einem Bericht der Vereinten Nationen könnte es bis zu 30 Jahre dauern, die Schäden zu beheben, wie "Die Zeit" schreibt. Viele Menschen in der Region leben vom illegalen Abzapfen stillgelegter Pipelines – ein riskantes, aber lukratives Geschäft. Die Ölkriminalität hat sich längst mit politischen und militärischen Netzwerken verflochten.
Zerreißprobe für den Vielvölkerstaat
Die Gewalt in Nigeria ist kein einzelner Krieg, sondern ein Geflecht aus Krisen: Im Nordosten kämpfen Boko Haram und der IS-Ableger ISWAP um Einfluss und Kontrolle über Dörfer. Beide Gruppen töten Muslime ebenso wie Christen. Jeder, der "nicht muslimisch genug" ist, wird zur Zielscheibe.
Im Nordwesten terrorisieren Banden, meist Fulani, die Bevölkerung mit Raub und Entführungen. In der Mitte des Landes schwelt ein ethnischer Kampf um Land zwischen Hirten und Bauern. Im Südosten fordern Separatisten der Indigenous People of Biafra (IPOB) einen eigenen Staat, während die Regierung sie als Terrororganisation einstuft.
Im Süden, im ölreichen Niger-Delta, kämpfen ehemalige Milizen und neue Syndikate um die Kontrolle über die Ressourcen.
Dazu kommt eine hohe organisierte Kriminalität (Drogenhandel, Kidnapping, Erpressung, Menschenhandel) die sich über alle Landesteile zieht und in manchen Regionen eng mit staatlichen Strukturen verwoben ist.
Nigeria als Beispiel unter vielen
Die religiöse Aufladung des Konflikts dient häufig als Deckmantel. Politiker, Milizen und selbst internationale Akteure nutzen Religion, um Loyalitäten zu schaffen oder Feindbilder zu legitimieren. Doch die Wurzeln liegen tiefer: in Armut, Machtmissbrauch, Klimakrise und kolonialen Altlasten.
Nigeria ist ein Land, dessen gesellschaftliche Spannungen bis in die Zeit der kolonialen Grenzziehungen zurückreichen. Die heutige Instabilität ist auch eine Folge dieser künstlichen Staatsgründung, die ethnische Gruppen und Lebensweisen zusammenzwang, ohne gemeinsame politische Basis.
Nigeria steht exemplarisch für viele Staaten in Subsahara-Afrika, in denen ökologische Notlagen, wirtschaftliche Ungleichheit und politische Korruption zu einem gefährlichen Mix werden. Religion spielt in diesem Konflikt keine treibende Rolle, sie ist vielmehr das Etikett einer tieferliegenden Verzweiflung.
Die wahren Frontlinien verlaufen nicht zwischen Christen und Muslimen, sondern zwischen Arm und Reich, zwischen Land und Stadt, zwischen Hoffnung und Machtlosigkeit.