Auf dem Jakobsweg blühen Schulverweigerer auf

Wo ein Wille, da auch ein Pilgerweg

Das Jahr 2010 ist ein offizielles "Heiliges Jakobusjahr", weil der Todestag des Apostels, der 25. Juli, auf einen Sonntag fällt. Insgesamt werden deshalb mehr als zehn Millionen Besucher im nordspanischen Santiago de Compostela erwartet. Darunter auch Schüler, die man hier nicht unbedingt erwartet.

 (DR)

Die Füße sind rot und brennen. Eine neue Blase hat sich auch wieder unter den Zehen gebildet. "Das war so anstrengend heute, ich war übelst k.o.", stöhnt der 14-jährige Elias. 32 Kilometer ist der Schüler an diesem Tag durch die sengende Hitze gewandert, über steile Anstiege bis kurz vor den Gipfel des Berges O Cebreiro in Nordspanien. 250 Kilometer laufen Elias und seine Mitschüler insgesamt, bis sie das Ziel ihrer Klassenfahrt erreicht haben: Sie pilgern nach Santiago de Compostela.

Die neun Jugendlichen gehen in die Klasse 8 der Rudolf-Steiner-Schule Schloss Hamborn in Borchen. Die Förderschule in der Nähe von Paderborn ist spezialisiert auf soziales und emotionales Lernen. Elias und die anderen Jugendlichen wohnen im Internat. Einige von ihnen haben Lernschwierigkeiten, persönliche oder familiäre Probleme, einige waren bereits in der Psychiatrie.

"Im Klartext gelten mehrere Schüler als schwer erziehbar", erläutert Klassenlehrerin Irmela Schulz. Ihre Klasse sei eigens für Schulverweigerer eingerichtet, die erst wieder lernen müssten, regelmäßig zur Schule zu gehen. Und deswegen schlägt die 54-jährige Pädagogin Wege jenseits des klassischen Schulunterrichts ein. So geht sie etwa jeden Donnerstag mit der Klasse 8 wandern.

Mittlerweile kennen die Schüler fast alle Wanderwege in Ostwestfalen. Und als die Frage nach einem Ziel für die Klassenfahrt aufkam, schlug der 15-jährige Sören vor: "Wir können doch den berühmtesten Wanderweg wandern".

"Sie motivieren sich selbst"
Und nun sind die neun Schüler mit fünf erwachsenen Begleitern im Heiligen Jahr auf dem Weg nach Santiago. Philipp war bis zuletzt skeptisch: "Zuerst dachte ich, das geht mir alles voll auf die Nerven, aber jetzt will ich immer mehr Kilometer laufen", sagt der 15-Jährige mit den langen blonden Haaren und der Skater-Kappe. "Und wenn man abends ankommt, ist man stolz auf sich, weil man so viel geschafft hat." Gemächliches Wandertempo ist Philipp und Elias viel zu langweilig.

Oft rennen sie vor, suchen die gelben Pfeile, die den Weg markieren oder warten im nächsten Dorf. Immer voll scheint ihr Akku. "Sie motivieren sich selbst und das ist für mich vollkommen unerwartet", sagt Irmela Schulz. Niemals habe sie gedacht, dass ihre Schüler wild darauf seien zu wandern - oder besser gesagt: zu pilgern. "Pilgern. Das Wort habe ich vorher nie in den Mund genommen, das hätte schon jede Motivation erloschen."

Auf dem Jakobsweg können die Schüler erfahren, was ihnen im normalen Schulalltag oft verwehrt bleibt: Sie können etwas, weil sie es wollen. "Hier sehen sie, dass sie etwas leisten. Und zwar völlig unabhängig davon, ob sie gut lesen oder schreiben können", so Schulz. Beim Pilgern sind die täglichen Anforderungen ganz anders. "Hier können die Schüler oft viel mehr als ich. Sie haben viel mehr Kondition und Motivation", beobachtet die Klassenlehrerin. Hinzu kommen die fremde Kultur und die Begegnung mit anderen Pilgern. Frau Schulz sei übrigens ganz korrekt, geben Philipp und Elias gerne zu:  "Die ist schon in Ordnung."

"Über 300 Stempel habe ich gesammelt"
250 Kilometer in weniger als zwei Wochen fordern ein strammes Tempo von den Jugendlichen. Aber Santiago ruft. "Angekommen sind wir um halb elf. Und weil Heiliges Jahr ist, sind wir in den komischen Raum gegangen, wo das Grab von Jakobus ist", berichtet Philipp bei der Ankunft in Santiago. "Das ist ja eigentlich der Grund, warum die meisten hierhin gehen." In der Pilgermesse in der Kathedrale wird die "Schulklasse aus Alemania" begrüßt und schließlich das riesige Weihrauchfass in Gang gesetzt.

Auf die letzte Aktion als Pilger freut sich Elias ganz besonders. Mit den gestempelten Pilgerausweisen geht er in die lange Schlange vor dem Pilgerbüro: "Über 300 Stempel habe ich gesammelt", strahlt er. Und dafür bekommt er, wie seine ganze Klasse, die Compostela, die offizielle Pilgerurkunde. "Man muss wollen, dass man es schafft", sagt Philipp. Und Elias neben ihm nickt: "Denn wenn man was nicht will, schafft man es auch nicht."