DOMRADIO.DE: Die vergangene Woche war sehr bewegend und für viele eine historische Sitzungswoche. Wie haben Sie das erlebt?
Birgit Wilke (Leiterin Hauptstadtbüro der Katholischen Nachrichten-Agentur Berlin): Das war in der Tat eine sehr ungewöhnliche Woche. Viele Abgeordnete haben mir gesagt, dass sie so etwas noch nie erlebt haben. Es war die letzte volle Sitzungswoche vor der Wahl. Eigentlich sollten nur Gesetze, auf die sich Union, SPD, Grüne und FDP verständigt hatten, verabschiedet werden.

Die schreckliche Messerattacke in Aschaffenburg hat alles geändert. Die Union wollte unbedingt Anträge für eine Verschärfung der Migrationspolitik in den Bundestag einbringen, auch auf das Risiko hin, dass die AfD zustimmt. Das ist am Mittwoch passiert und das Echo, das folgte, war gewaltig. Viele haben die Bilder einer jubelnden AfD-Fraktion nach der Abstimmung gesehen.
Am Mittwochabend begannen schon die ersten Demonstrationen gegen das Vorgehen der Union und am Donnerstag wurde sogar die CDU Parteizentrale besetzt. Noch ungewöhnlicher war am Donnerstag, dass die ehemalige Bundeskanzlerin sich zu Wort meldete, sich in die Tagespolitik einmischte und ganz klar den CDU-Kanzlerkandidaten Merz kritisierte. Ein solches Vorgehen vor einer Wahl, war zuvor nicht bekannt.
DOMRADIO.DE: Es gab auch noch einen Gesetzesentwurf zur Migrationspolitik der Union, das Zustrombegrenzungsgesetz. Das stand für Freitag auf der Tagesordnung. Das Ganze zog sich bis in den späten Nachmittag. Viele Menschen haben die Debatte live im TV mitverfolgt. Was ist da passiert?
Wilke: Es war ein sehr denkwürdiger Sitzungstag. Die AfD hatte wieder signalisiert, dass sie zustimmen wird. Die Union hatte den Entwurf mit dem Namen "Zustrombegrenzungsgesetz" vorgebracht. Am Freitag wurde die Sitzung direkt nach Beginn für mehrere Stunden unterbrochen, weil Union, SPD, Grüne und FDP noch versucht hatten, sich zu verständigen. Das misslang, wie wir wissen.
Das Gesetz scheiterte auch deshalb, weil zwölf Abgeordnete der Union und sogar 16 der FDP dem Entwurf nicht zustimmten und ihre Stimme gar nicht erst abgaben. Immerhin gab es an dem Abend keine jubelnden Bilder von der AfD. Aber ja, es ist zu befürchten, dass die AfD, die einzige Partei sein wird, die von dieser Woche profitieren wird.
DOMRADIO.DE: Vergangene Woche hat ein Stellungnahmen-Papier der Kirchen für Wirbel gesorgt. Was war das für ein Papier?
Wilke: Die Stellungnahme an die Abgeordneten im Bundestag wandte sich vor allem gegen diesen Gesetzentwurf am Freitag. Die Kirchen hatten darin zur Besonnenheit aufgerufen, mit Blick auf eine schärfere Migrationspolitik. In dem Papier wird betont, dass die Maßnahmen, die darin vorgeschlagen wurden, diese schrecklichen Anschläge in den vergangenen Monaten auch nicht verhindert hätten.
Außerdem gab es einen Begleitbrief. Darin wurde explizit davor gewarnt, ein Gesetz mit den Stimmen der AfD zu verabschieden. Die Demokratie könne sonst schweren Schaden nehmen, so hieß es darin. Die Stellungnahme wurde am Dienstagabend verschickt, ging an die Abgeordneten und wurde von denen verbreitet. Das Echo war sehr groß.
Bundeskanzler Scholz hatte das sogar in seiner Regierungserklärung aufgegriffen. Er hat von der Stellungnahme als Brandbrief gesprochen. Es ist ein ungewöhnlicher Vorgang, dass die Kirchen sich so kurz vor der Wahl zu Wort gemeldet haben und sozusagen auch die Union vor diesem Schritt gewarnt haben.
Aber gut, es war auch eine sehr ungewöhnliche Situation, letztlich verursacht durch das Ampel-Aus und dann eben mit dem Vorbehalt, dass ungewöhnliche Mehrheiten zustande kommen können.
DOMRADIO.DE: Aber war das eine offizielle Warnung der Kirchen oder war das eine Art Alleingang des Leiters des katholischen Büros und der evangelischen Kollegin?
Wilke: Man muss da unterscheiden. Es gab einmal diese Stellungnahme. Darin wurde vor einer verschärften Migrationspolitik gewarnt. Der Gesetzentwurf, um den es ging, war im Prinzip alt. Der stammt noch vom letzten Herbst. Da gab es schon eine erste Lesung dazu und der Entwurf wurde im Innenausschuss beraten und abgelehnt. Die Union hatte ihn sozusagen wieder hervorgeholt, weil sonst zu befürchten gewesen wäre, dass die AfD das getan hätte. Die Kirchen haben sich gegen diese Migrationspolitik gewandt. Das war im Prinzip auch von den Worten her nichts Neues. Etwas Ähnliches hatten die Kirchen schon vorher gesagt.
Es gab aber auch diesen Begleitbrief, unterschrieben von den beiden Leitern des Katholischen und Evangelischen Büros. Darin wurde noch mal explizit davor gewarnt, zu riskieren, dass die AfD bei diesem Gesetzt zustimmen könnte. Das ist offenbar nicht im Detail mit den Bischöfen abgesprochen worden. Denn es musste alles schnell gehen. Ich glaube, die Bischöfe waren überrascht, wie schnell sich das verbreitet hat und für welches großes Echo der Brief gesorgt hat.
DOMRADIO.DE: Das war die letzte Sitzungswoche. Wie geht das weiter? Was steht in Berlin an diese Woche?
Wilke: Diese Woche werden wir das weiterverfolgen. Es war die letzte volle Sitzungswoche. Nächste Woche gibt es noch zwei Sitzungstage, da darf man auch gespannt sein, was da noch kommt. Wir werden weiter beobachten, was jetzt auch innerhalb der demokratischen Fraktionen passiert, wie sich die Fraktionen wieder aufeinander zubewegen werden.
Mir fällt nach der Debatte am Freitag der Satz von Jens Spahn ein: "Wir werden uns viel verzeihen müssen". Wir werden auch beobachten, wie sich das Verhältnis von Union und Kirche, was jetzt belastet ist, weiterentwickelt.
Eine gute Gelegenheit dazu ist der Parteitag der CDU am Montag in Berlin. Der startet mit einem Gottesdienst mit den beiden Leitern der Büros, Prälatin Anne Gidion und Prälat Karl Jüsten. Ich vermute mal, dass es da schon erste Gespräche geben wird, wenn man die Gelegenheit hat, wieder zu sprechen.
Das Interview führte Ute Vorbrodt.