Amnesty-Generalsekretärin zur deutschen Menschenrechtspolitik

Gemischte Bilanz

Amnesty International zieht kurz vor der Bundestagswahl eine gemischte Bilanz der Menschenrechts- und Flüchtlingspolitik der großen Koalition. International mache sich die Bundesregierung zwar für Gesundheitsfürsorge und Grundbildung stark, sagte die neue Generalsekretärin des deutschen Amnesty-Zweigs, Monika Lüke (40), im epd-Interview. In vielen Bundesländern müssten aber Migranten ohne Papiere wegen des Schul- oder Arztbesuchs die Abschiebung fürchten.

 (DR)

epd: Frau Lüke, die EU-Kommission tadelt die Bundesrepublik und andere EU-Mitgliedsstaaten dafür, zu wenige Flüchtlinge aufzunehmen. EU-Kommissar Jacques Barrot plädiert für eine gemeinsame Strategie zur Aufnahme Schutzbedürftiger. Was halten Sie von diesen Vorschlägen?
Lüke: Barrot hat vorgeschlagen, jedes Jahr eine Prioritätenliste der Krisengebiete und schutzbedürftigen Gruppen aufzustellen, die am dringendsten Hilfe benötigen. Außerdem will die EU für die Aufnahme besonders Schutzbedürftiger wie etwa Frauen, Kinder und Kranker einen Zuschuss von 4.000 Euro pro Kopf zahlen. Für uns sind diese Vorschläge ein erster Schritt, der dazu beitragen kann, dass die EU ihre Verantwortung für die Lösung des internationalen Flüchtlingsproblems wieder stärker wahrnimmt.

epd: Schätzungen zufolge müssen allein 2010 etwa 200.000 Flüchtlinge umgesiedelt werden, weil sie an ihrem ersten Zufluchtsort nicht bleiben können. Was muss geschehen?
Lüke: Die Erfahrungen mit der Aufnahme irakischer Flüchtlinge sollten genutzt werden. Die EU hat zugesagt, insgesamt 10.000 irakische Flüchtlinge aus Syrien oder Jordanien aufzunehmen, auf freiwilliger Basis, davon die Bundesrepublik 2.500. Das scheint zu funktionieren, ist aber zuwenig. Die EU muss mehr Flüchtlinge aufnehmen. Deshalb kommen jetzt weitere Vorschläge, für Regionen wie Kenia oder den Tschad, wo hunderttausende Flüchtlinge nicht richtig versorgt werden können.

epd: Ist das eine faire Teilung der Lasten, wie sie immer gefordert wird?
Lüke: Das ist noch keine Lösung für die Bootsflüchtlinge im Mittelmeer. Im vergangenen Jahr haben die Vereinten Nationen 67.000 Menschen gezählt, die versucht haben, die europäischen Küsten zu erreichen. Hunderte sind umgekommen. Derzeit ist Malta beispielsweise für 19 mal mehr Asylgesuche zuständig als Deutschland, wenn man das auf die Bevölkerungszahl der beiden Länder hochrechnet.

epd: Was fordern Sie für die Bootsflüchtlinge?
Lüke: Sie müssen auf EU-Boden einen Asylantrag stellen können. Die sogenannte Dublin-II-Verordnung muss endlich reformiert werden, damit Flüchtlinge nicht nur im ersten Land, das sie in Europa betreten, Asyl beantragen können. Die menschenrechtswidrige Asylpolitik in Italien und Griechenland und die Abschottungspolitik Spaniens und Maltas sind auch Folge von Dublin II. Würde diese EU-Verordnung reformiert, gäbe es für die Mittelmeerstaaten in der EU keinen Grund mehr für ihre restriktive Politik. Ziel muss sein, dass ein Flüchtling beispielsweise auch in Schweden Asyl beantragen kann, wenn dort schon Angehörige leben.

epd: Wie stellt sich die deutsche Politik dazu?
Lüke: Von der Bundesregierung gibt es dazu leider noch kein positives Signal. Dabei hat Frankreich schon Flüchtlinge von südeuropäischen Staaten aufgenommen. Anstatt in ihrem Wahlprogramm auf nationale Beschlüsse zu pochen, sollte die CDU die gemeinsame EU-Verantwortung für die Migrationspolitik ernst nehmen. Wer Schiffbrüchige im Mittelmeer rettet, soll nicht fürchten müssen, mit ihnen allein gelassen zu werden.

epd: Muss nicht das Hauptziel sein, die lebensgefährliche Flucht über das Mittelmeer zu verhindern und andere Wege nach Europa zu öffnen?
Lüke: Ja. Für Amnesty stehen die Menschen im Vordergrund, die politisch verfolgt sind. Sie müssen Möglichkeiten zur Flucht nach Europa haben. Für Menschen, die aus wirtschaftlichen Gründen fliehen, muss es eine Migrationspolitik geben. Es darf nicht passieren, dass Menschen im Mittelmeer ertrinken. Alle, die in Flüchtlingsbooten um Hilfe rufen, müssen Zugang zu einem Asylverfahren in der Europäischen Union erhalten. Sie dürfen nicht nach Libyen abgeschoben werden.

epd: Können Sie im Wahlkampf mit den Themen Asyl und Menschenrechte überhaupt Gehör finden?
Lüke: Wir bemühen uns, denn das ist sehr wichtig. Die Bundesregierung lässt sich etwa zur Zeit von einigen Ländern diplomatisch zusichern, dass aus Deutschland Abgeschobene nicht verfolgt werden. Auf diese Zusicherungen kann sich aber niemand wirklich verlassen. Das heißt, es besteht die Gefahr, dass Flüchtlinge in Länder abgeschoben werden, in denen gefoltert wird.
Das widerspräche dem Völkerrecht und dem Folterverbot.

epd: Welches Zeugnis stellen Sie der Menschenrechtspolitik der großen Koalition aus?
Lüke: An den wirtschaftlichen und sozialen Menschenrechten wird die Ambivalenz deutlich. Dazu gehört das Recht, bei Krankheit behandelt zu werden und das Recht, in die Schule gehen zu dürfen. Die Bundesregierung hat international viel getan, damit ein Zusatzprotokoll zum Menschenrechtspakt zustande kam, das Einzelpersonen ein Beschwerderecht einräumt. Das ist ein großer Fortschritt. Nun ist aber die Bundesregierung sehr zurückhaltend, das Protokoll zu unterzeichnen. Dazu gibt es am 24. September die Möglichkeit.

epd: Fürchtet Deutschland, selbst an den Pranger gestellt zu werden?

Lüke: In einigen Bundesländern müssen irreguläre Migranten, also Menschen ohne gültige Aufenthaltspapiere, befürchten, dass sie abgeschoben werden, wenn ihre Kinder in die Schule gehen, weil die Schulen die Familien dann den Ausländerbehörden melden. Dasselbe kann passieren, wenn Migranten zum Arzt gehen.

epd: Was sagen Sie zur deutschen Menschenrechtspolitik im Ausland? Was ist der richtige Umgang mit autoritären Regimen?
Lüke: Wirtschaftliche und politische Kontakte müssen die Menschenrechte einbeziehen, und nicht nur auf Tischredenniveau. Das gilt im Verhältnis zum Iran, wenn die Bundesregierung über die Atompolitik mit verhandelt. Das gilt gegenüber Russland und China.
Notfalls muss eben mal auf einen Wirtschaftskontrakt verzichtet werden.

epd: US-Präsident Barack Obama ist im Januar als großer Hoffnungsträger ins Amt gekommen. Erfüllt er die Erwartungen?

Lüke: Es ist ganz wichtig, dass er zugesagt hat, das Gefangenenlager Guantánamo auf Kuba binnen zwölf Monaten zu schließen und für die Achtung der Menschenrechte bei der Bekämpfung des Terrorismus zu sorgen. In Guantánamo werden immer noch 226 Häftlinge unter menschenunwüdigen Bedingungen festgehalten. Damit der amerikanische Präsident sein Versprechen einhalten kann, braucht er Unterstützung. Deutschland und andere europäische Staaten müssen Häftlinge aufnehmen. Wir begrüßen auch, dass ein Sonderermittler zur Aufarbeitung der Foltervorwürfe gegen die CIA eingesetzt wurde.

epd: Rechnen Sie damit, dass nach der Bundestagswahl Bewegung in die Guantánamo-Frage kommt?

Lüke: Ja. Den allermeisten Politikern ist, klar, dass ein erheblicher Teil der Guantánamo-Häftlinge einfach zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort war. Die US-Geheimdienste haben bereits erklärt, dass sie frei von Terrorverdacht sind. Die Politiker wissen auch, dass 50 bis 60 dieser Häftlinge nicht in ihre Länder zurückkehren können, weil ihnen Verfolgung droht. Bei der Aufnahme dieser Menschen muss auch die Bundesrepublik einen Beitrag leisten.

epd: Was bedeutet die Schließung von Guantánamo?

Lüke: Mit Guantánamo wird ein Symbol für die Missachtung der Menschenrechte im Kampf gegen den Terror beseitigt. Damit wird Extremisten ein Argument für ihre Anschläge genommen. Die Glaubwürdigkeit des Westens wächst, der Westen kehrt zu seinen Werten zurück. Ich prognostiziere, dass damit auch die Terrorgefahr sinken wird. Aber: Die Schließung von Guantánamo ist nur ein Etappenziel - es gibt etwa noch das berüchtigte Gefängnis Bagram in Afghanistan, wo Hunderte unter ähnlichen Bedingungen einsitzen. Und wir müssen sicher sein, dass es keine Geheimgefängnisse mehr gibt.

epd: Wie fest steht Europa zu den freiheitlichen Werten? Immerhin gab es in Deutschland bei der Entführung und Ermordung eines Frankfurter Jungen auch eine Folterdebatte.
Lüke: Das Folterverbot ist unumstößlich, es ist in Konventionen verankert und durch die Rechtsprechung auf höchster Ebene vielfach bestätigt. Das Problem aber ist die Realität. Wenn Politiker ihren Staat bedroht sehen, besteht die Gefahr, dass das Folterverbot bröckelt. Das gibt es in vielen Ländern der Dritten Welt, aber auch in Industrieländern, wie sich in der Bush-Ära gezeigt hat. Auch bei uns haben Juristen angefangen, das Folterverbot gegen andere Rechtsgüter abzuwägen. Wir müssen auch in Zukunft Acht geben. Das Eis ist dünn.

Mit der Völkerrechtlerin sprachen Lukas Philippi und Elvira Treffinger.