Alleine im Kölner Dom

"Heiliger" Nachtwächter

Wenn der letzte Besucher den Kölner Dom verlassen hat, übernimmt Günter Brodka. Auch in der Heiligen Nacht wacht er über das Gotteshaus, das für ihn besondere Bedeutung hat. Er genießt die Ruhe, die bei vielen für Unbehagen sorgt.

Autor/in:
Nicolas Ottersbach
Heilige Nacht im Kölner Dom / © Nicolas Ottersbach (DR)
Heilige Nacht im Kölner Dom / © Nicolas Ottersbach ( DR )

Die Kirchenmaus im Kölner Dom ist wirklich arm. Schuld daran ist Günter Brodka. Als Nachtwächter räumt er das weg, was von der Christmette übrig geblieben ist. Das ist diesmal, bis auf unzählige Programmheftchen, nicht viel. "Obwohl der Dom voll war, sieht es ordentlich aus", erzählt er. Ein paar Taschentücher und Getränke haben die rund 2000 Gläubigen und Nicht-Gläubigen hinterlassen. Die Kathedrale ist selbst in der Heiligen Nacht eben nicht nur ein Gotteshaus, sondern auch ein Touristenmagnet.

Heilige Nacht im Kölner Dom / © Nicolas Ottersbach (DR)
Heilige Nacht im Kölner Dom / © Nicolas Ottersbach ( DR )

Vorbereitung für den weihnachtlichen Höhepunkt

Um 22 Uhr stehen schon die ersten Schlange. Die Polizei hat einen Streifenwagen vor dem Hauptportal postiert, um für Sicherheit zu sorgen. Bis der Einlass in anderthalb Stunden beginnt, werden sich die Wartenden rund Hundert Meter lang über die Domplatte verteilen. Brodka bekommt von all dem nur wenig mit. Er ist erst einmal damit beschäftigt, alles für den weihnachtlichen Höhepunkt vorzubereiten.

Der 64-Jährige steht auf der anderen Seite des Haupteingangs in 20 Metern Höhe und zündet Kerzen an. Sie stehen im halbrund oberhalb des Dreikönigschreins und sollen, ebenso wie die Weihnachtsbäume im Altarraum, für eine besondere Atmosphäre sorgen. "Die Küster sagen uns an solchen Tagen, bei denen es nicht nur eine normale Messe gibt, was wir alles zu erledigen haben", sagt Brodka. Für den Gottesdienst der Karnevalisten Anfang Januar müssen Stühle aufgestellt werden. Zwei Tage danach folgt die Öffnung des Dreikönigsschreins. Er genießt den Moment der Ruhe, bevor es richtig losgeht. Denn viele Besucher bedeuten auch viel Stress.

Heilige Nacht im Kölner Dom / © Nicolas Ottersbach (DR)
Heilige Nacht im Kölner Dom / © Nicolas Ottersbach ( DR )

Deshalb hat er heute Verstärkung bekommen. Das Protokoll ist umfangreicher als sonst. Normalerweise gibt es pro Nacht einen Nachtwächter, der durch einen Sicherheitsdienst-Mitarbeiter ergänzt wird. Heute helfen ihm zwei Mitarbeiter, die sich um den Eingang kümmern, und Domschweizer Stephan Krahforst. Der 45-Jährige ist seit Oktober einer der insgesamt drei Nachtwächter, weil ein anderer erkrankt ist. Vorher gehörte er zu den normalen Domschweizern. Die sind kurz vor und bis kurz nach der Christmette ebenfalls anwesend und regeln das laufende Geschäft. Deshalb dürfen Brodka und Krahforst heute auch ohne den typischen roten Talar Dienst schieben. Sie halten sich vor allem im Hintergrund auf, wo sie niemand sieht. Arbeitskleidung ist bei diesen Aufgaben praktischer.

Kölner Dom

Blick auf den Kölner Dom / © BalkansCat (shutterstock)
Blick auf den Kölner Dom / © BalkansCat ( shutterstock )

Der Kölner Dom ist eine der bedeutendsten Kirchen der Welt und die meistbesuchte Sehenswürdigkeit in Deutschland. Das Gotteshaus beherbergt die Reliquien der Heiligen Drei Könige, die Erzbischof Rainald von Dassel 1164 aus Mailand nach Köln brachte.

Der Grundstein für den gotischen Neubau an der Stelle mehrerer Vorgängerkirchen wurde 1248 gelegt; 1322 wurde der Chor geweiht. Mittelschiff, Querhäuser und Seitenschiffe der Kölner Bischofskirche folgten bis 1560. Dann stoppten die Querelen um die Reformation und Geldmangel den Baubetrieb.

Ein unverwechselbarer Schnauzbart

Erkannt wird Brodka trotzdem, sobald er durch den Dom geht. Die grauen Haare und der Schnauzbart sind unverwechselbar. So unverwechselbar, dass mancher vermutet, dass eine Figur neben dem Hauptportal sein Ebenbild sei. "Ist natürlich Quatsch, das ist glaube ich Stephan von Ungarn", sagt Brodka und winkt ab. Ein bisschen Stolz ist er trotzdem, schließlich hält der Mann ein großes Schwert in den Händen und bewacht den Dom. So wie er.

Weil gerade so viele Menschen einströmen, stellt er sich mit an den Eingang und hilft aus. "No Käppi inside, please", sagt er zu einem jungen Mann. Ein anderer ist betrunken, auch das bedeutet keinen Einlass. "Im Dom gelten ein paar Regeln, an die sich jeder halten muss. Da wird nicht dran gerüttelt." Männer dürfen generell keine Kopfbedeckung tragen. Auch zu wenig Stoff ist ein No-Go. "Bauchfrei oder zu kurze Hosen zum Beispiel. Damit dürften wir heute aber keine Probleme haben", sagt er und lacht.

Rheinische Frohnatur aus Oberschlesien

Günter Brodka hat immer einen lockeren Spruch auf den Lippen. Er schäkert mit dem Monsignore in der Sakristei, den anderen Domschweizern, der Küsterin. Wie sie ihn beschreiben würde? "Sehr gewissenhaft." Man könnte ihn auch als rheinische Frohnatur betiteln, obwohl er gar nicht aus dem Rheinland stammt. In den 1970ern kam er mit seiner Familie als Spätaussiedler nach Köln. Das hört man heute noch, der Dialekt aus Oberschlesien mischt sich mit Kölsch. Er arbeitete unter anderem bei der Bahn, auf dem Bau, in der Gastronomie in Spanien. Die meiste Zeit verbrachte er aber in der Logistik des Kölner Stadt-Anzeigers und schob Jahrzehnte lang Nachtschichten, ehe er 2016 zu den Domschweizern wechselte.

Heilige Nacht im Kölner Dom / © Nicolas Ottersbach (DR)
Heilige Nacht im Kölner Dom / © Nicolas Ottersbach ( DR )

Es ist ein Schicksalsort für ihn, positiv wie negativ. "Mein Urgroßvater segelte beim Dombau vom Turm", erzählt er. Seine Mutter hörte in der Heimat nach dem Krieg immer Karnevalslieder, weshalb die Entscheidung für Köln fiel. Eine Tochter wurde im Dom getauft, die andere ging hier zur Kommunion. Ihre Namen sind sogar im Dom verewigt. Brodka gewann die Lotterie um einen der goldenen Sterne, die in den Boden eingelassen sind. Eine Art Walk of Fame, für den man sich bei der Dombauhütte gegen eine Spende ab 5000 Euro einkaufen konnte.

Heilige Nacht im Kölner Dom / © Nicolas Ottersbach (DR)
Heilige Nacht im Kölner Dom / © Nicolas Ottersbach ( DR )

Herzinfarkt im Dom erlitten

Im Dom erlitt Brodka aber auch einen von zwei Herzinfarkten. Seitdem geht er es etwas ruhiger an. Zumindest für seine Begriffe: jeden Tag eine halbe Stunde Fahrradfahren auf dem Heimtrainer. Zu Hause hat er sich ein kleines Fitnessstudio eingerichtet. Überbleibsel aus der Zeit, als er noch als Bodybuilder auf der Bühne stand. Das Beweisfoto hat er auf seinem Handy, versteckt zwischen Hunderten Aufnahmen vom Dom. Die Kondition ist trotz Alter und Krankheit geblieben, die vielen Treppen und schmalen Gänge meistert er mit seiner drahtigen Figur problemlos.

Heilige Nacht im Kölner Dom / © Nicolas Ottersbach (DR)
Heilige Nacht im Kölner Dom / © Nicolas Ottersbach ( DR )

Während Kardinal Woelki seine Predigt hält, sind Brodka und Krahforst draußen. Normalerweise dürfen sie während der Nachtwache nicht einfach aus dem Dom. Aber es muss jemand die Kerzen an den Gräbern hinter dem Hochchor anzünden. Ein Leichtes – wenn da nicht der Wind wäre. "Mach das wie die Kinder mit den Böllern, in der Jacke", ruft Brodka zu Krahforst. Als alle Lämpchen brennen, hält er wieder kurz inne, genießt das schöne Licht. Aber nur kurz. "Kennste den Witz von Tünnes und Schäl, als sie den Dom verschieben?" Brodka lacht wieder laut. "Komm, wir gehen wieder rein, gleich ist die Messe vorbei."

Vorher ist Zeit für eine kleine Pause. Der Aufenthaltsraum im vierten Stock des Sakristei-Anbaus ist nicht größer als zehn Quadratmeter, hat aber einen Aufzug. "Wenn etwas passiert, müssen wir schnell unten sein", sagt Brodka. Die Tür hat er immer offen, um zu hören, wenn etwas passiert. Und damit frische Luft reinkommt. Die Fußbodenheizung heizt das Räumchen zu sehr auf. "Wenn es richtig kalt ist, ziehe ich mir die Schuhe aus, um mich kurz zu wärmen."

Mittagspause um 1 Uhr nachts

Dafür ist diesmal keine Zeit. Stattdessen wird kurz "Mittagspause" gemacht. Um 1 Uhr nachts. Krahforst packt Nudelsalat aus, Brodka hat wie immer Butterbrote dabei. Wäre man gerade nicht lieber bei der Familie, um Weihnachten zu feiern? "Das ist jedes Jahr so. Dafür habe ich sie morgen die ganze Zeit um mich. Der Dom ist für mich wie ein zweites Zuhause", erzählt Brodka. Als gläubiger Katholik ist es für ihn aber auch ein Haus Gottes. Oder wie er sagt: "Vom Chef." Er betet viel, ist aber kein treuer Messgänger. "Man kann auch einen starken Glauben haben, ohne in die Kirche zu gehen." Ganz davon abgesehen verbringe er ja schon beruflich genug Zeit dort.

Heilige Nacht im Kölner Dom / © Nicolas Ottersbach (DR)
Heilige Nacht im Kölner Dom / © Nicolas Ottersbach ( DR )

Gegen 2 Uhr leeren sich die Gemäuer schlagartig. Die Christmette ist zu Ende. Es wird noch andächtiger. Das Gewusel weicht einer Stille, in der man jeden Windstoß hört. Fast so, also würde der Dom durchatmen und Kraft für den nächsten Tag tanken. Es sei nicht jedermanns Sache, die Nacht hier zu verbringen, erzählt Brodka. "Du siehst und hörst Sachen und fragst dich, wo sie herkommen." Es poltert, es knackt, Schatten huschen durch das gedämpfte Licht. Mancher würde sagen, es spukt im Dom. Ganz will Brodka dem nicht widersprechen. Doch meist sind es Fenster, die irgendwo hoch oben zuschlagen, Holzbänke, die durch Temperaturwechsel knarzen oder Lichtkegel von draußen. Brodka bringt das nicht aus er Ruhe: "Angst musst du nur vor den Lebenden haben, nicht vor den Toten."

Heilige Nacht im Kölner Dom / © Nicolas Ottersbach (DR)
Heilige Nacht im Kölner Dom / © Nicolas Ottersbach ( DR )

Einbrecher in die Flucht geschlagen

Aber auch vor denen ist er nicht bang. Er hat schon so manchen Eindringling in die Flucht geschlagen. Einmal machten sich zwei Männer an einem der Portale zu schaffen. "Ich habe mich angeschlichen und dann heftig an der Türklinke gerüttelt." Weg waren sie. Für ernste Fälle gibt es eine Alarmanlage, die mit Polizei und Feuerwehr verbunden ist. Und das Notfallhandy, das er immer bei sich hat. Das brauchte er, als jemand versuchte, Teile aus dem kostbaren Richterfenster auszuschlagen. Auf die Idee, sich im Dom zu verstecken, darauf kamen schon so einige, sagt Brodka. Trotz vieler Gänge und der Unübersichtlichkeit sei das aber nahezu unmöglich. "Wir kennen alle Ecken und kontrollieren sie auch auf unseren Runden." Mancher denke sich aber auch gar nichts Böses und schlafe einfach nur ein. Diese Nacht bleibt es, bis auf einen Zwischenfall, ruhig. Einem Obdachlosen sind Glasflaschen vor dem Hauptportal heruntergefallen. Er räumt aber selbst auf, die Scherben kehrt Brodka später zusammen.

Die Nachtwache ist für Überbleibsel jeglicher Art zuständig. "Man glaubt gar nicht, was die Leute alles zurücklassen." Für Wertgegenstände wie Handys gibt es einen kleines Fundbüro, oder vielmehr einen Schrank, über den die Domschweizer wachen. Für den groben Dreck eine Kehrmaschine und einen Wasserschlauch. In einem Nebenraum stehen Akkustaubsauger, die hauptsächlich die Reinigungskräfte nutzen. Den Müll, der drinnen zwischen die Säulen gesteckt wurde, räumt Brodka selbst weg, genauso wie das Erbrochene draußen. "Ich bin froh, dass teilweise ein Zaun um den Dom gebaut wurde." Die Leute würden respektloser mit dem Dom umgehen. Das merke man auch im persönlichen Umgang der Besucher, die aggressiver seien als noch vor ein paar Jahren.

Kerzendienst an der Schmuckmadonna

Heilige Nacht im Kölner Dom / © Nicolas Ottersbach (DR)
Heilige Nacht im Kölner Dom / © Nicolas Ottersbach ( DR )

Es geht rüber zu den Kerzen an der Schmuckmadonna. Der Ort, an dem viele Menschen für sich und ihre Liebsten beten. Die meisten Dochte brennen nun schon nicht mehr, im Schnitt dauert das anderthalb Stunden. "Ich puste die nicht aus. Die Menschen, die sie hier angezündet haben, haben sich dabei etwas gedacht." Er räumt sie behutsam beiseite, um danach die Gestelle mit Pinsel und Spachtel vom Wachs zu befreien. Danach füllt er die Kerzenbestände wieder auf. Brodka erledigt das mit einer meditativen Ruhe. So gehen jedes Jahr rund eine Million Kerzen durch seine Hände und die seiner zwei Nachtwächter-Kollegen. "Während Corona war es weniger, aber jetzt kommen wir wieder dabei an."

Heilige Nacht im Kölner Dom / © Nicolas Ottersbach (DR)
Heilige Nacht im Kölner Dom / © Nicolas Ottersbach ( DR )

In den ruhigen Jahren hatte er viel Zeit, den Dom zu studieren und Fotos zu machen. Eines der schönsten ist das bunte Richter-Fenster, wenn der Vollmond hineinstrahlt. "Man entdeckt immer wieder Neues, obwohl man die Orte zu kennen scheint", sagt Brodka. Letztens sind ihm die Finger einer Heiligenfigur aufgefallen, die so aussehen, als würden sie das Zeichen eines Gehörnten darstellen. "Das ist was für die Italiener", sagt Brodka und lacht wieder verschmitzt. Einen Lieblingsort hat er nicht. Manchmal sitzt er im Dunkeln unter dem wuchtigen Gewölbe, beschäftigt sich mit den vielen Geschichten, die sich um den Dom ranken und lässt seinen Gedanken freien Lauf. Er ist davon überzeugt, dass das Leben ohne Glauben keinen Sinn ergibt. "Wer nicht glaubt, ist blind für das Leben, und blind für den Dom."

Mit 70 Jahren in Rente?

Um 6 Uhr ist seine Schicht zu Ende. Dann hat er wieder zehn Stunden im Dom verbracht, an einem von 17 Tagen im Monat. Wie lange Brodka das noch machen will? "Ich liebe es hier. An die Rente denke ich noch lange nicht", sagt er und traut sich noch viele Jahre zu. In der Regel ist mit 70 Jahren Schluss, weil die Domleitung eine gewisse Fitness voraussetzt. Aber daran arbeitet Günter Brodka ja weiterhin eisern. "Wie sagt man doch so schön: Der Glaube versetzt Berge."

Quelle:
DR