Ahrweiler Pfarrer begrüßt Rücktritt von Anne Spiegel

"Der Rücktritt ist folgerichtig"

Bundesfamilienministerin Anne Spiegel ist zurückgetreten - wegen Kritik an ihrem Familienurlaub kurz nach der Flutkatastrophe und nach einem emotionalen Statement. Wie kommt ihr Rücktritt bei den Betroffenen der Flut im Ahrtal an?

Anne Spiegel besucht das Ahrtal / © Thomas Frey (dpa)
Anne Spiegel besucht das Ahrtal / © Thomas Frey ( dpa )

DOMRADIO.DE: Was denken Sie über den Rücktritt von Anne Spiegel? 

Pfarrer Jörg Meyrer (Dechant des Dekanats Ahrweiler): Zunächst einmal ist es ihre persönliche Entscheidung, die ich zu respektieren habe. Aber ich finde es eigentlich folgerichtig, dass sie den Rücktritt angeboten hat. 

Dechant Jörg Meyrer / © Pfarrei St. Laurentius
Dechant Jörg Meyrer / © Pfarrei St. Laurentius

DOMRADIO.DE: Haben Sie selbst und die Leute in den betroffenen Gebieten in Rheinland-Pfalz denn damals in diesem ganzen Chaos, in der Trauer und in der Schockstarre wahrgenommen, dass die damalige Ministerin im Bundesland im Urlaub war? 

Meyrer: Nein. Also es war von hier aus kaum machbar und möglich, über den Tellerrand hinauszuschauen. Und ich habe mir auch keine Gedanken gemacht, wer jetzt politische Verantwortung trägt und wer was wo entscheidet. Dafür hatten wir alle hier im Ahrtal viel zu viel zu tun. Auch die Diskussion um unseren Landrat konnte man nur von Ferne mitbegleiten. Und ob die Umweltministerin da war oder nicht, das hat hier - glaube ich - keiner gemerkt. 

DOMRADIO.DE: Sie sind ja selbst auch Seelsorger. Wenn Sie Anne Spiegel in Ihrem Pressestatement gesehen haben, wie sie von Überforderung auch durch Amt und Familie spricht, haben Sie dann Verständnis dafür? 

Pfarrer Jörg Meyer

"Ich verstehe nicht - ganz ehrlich - wie man dann ein nächstes Amt noch übernimmt, das eigentlich noch viel mehr Herausforderungen bringt."

Meyrer: Also für jemanden, der überfordert ist, muss man hier im Ahrtal sehr viel Verständnis haben. Ich bin es ja selber damals gewesen und heute auch noch oft genug. Und ich glaube, ich bin im Ahrtal nicht der einzige, der von den Herausforderungen, denen wir uns hier zu stellen haben, Tag für Tag überfordert ist: Familie, Arbeit, die ganzen Fragen von Wiederaufbau zwischen Handwerkern, Anträgen, Gutachten, Material, das nicht da ist, Finanzen, wie man das alles regeln soll - und das dazu jetzt fast neun Monate lang. Ich glaube, für Herausforderungen und Überforderungen hat hier jeder Verständnis und auch dafür, dass man sich dann auch mal gelegentlich zurückzieht. Aber warum macht man das dann nicht deutlicher und klarer? Ich verstehe nicht - ganz ehrlich - wie man dann ein nächstes Amt noch übernimmt, das eigentlich noch viel mehr Herausforderungen bringt. Sie ist von der Landesministerin zur Bundesministerin gegangen und hatte gerade die Überforderung. Die privaten Überforderungen und Anforderungen nimmt sie ja mit. 

DOMRADIO.DE: Also auf der einen Seite Verständnis, aber auf der anderen Seite auch eine gewisse Enttäuschung? 

Meyrer: Ja, Verständnis natürlich für jemanden, der in einer großen Verantwortung steht und private Herausforderungen hat. Dafür muss ich als Seelsorger Verständnis haben. Dafür habe ich auch Verständnis. Ich kenne meinen eigenen Weg und meine eigenen Schwierigkeiten in den letzten neun Monaten. Das darf man sagen. Man darf sagen, dass man überfordert ist. Aber warum sagt man dann nicht: Ich nehme Verantwortung dafür auch wahr, wenn ich Dinge falsch gemacht habe oder wenn ich Entscheidungen getroffen habe, die nicht richtig waren, oder wenn ich nicht bei den Menschen war. Das hat sie am Montag nicht gesagt, glaube ich. 

Pfarrer Jörg Meyer

"Man darf sagen, dass man überfordert ist. Aber warum sagt man dann nicht: Ich nehme Verantwortung dafür auch wahr, wenn ich Dinge falsch gemacht habe."

DOMRADIO.DE: In der Begründung für ihren Rücktritt hieß es ja, sie trete zurück, um Schaden vom Amt abzuwenden. Klingt das für Sie so, als würde sie eigene Fehler eingestehen? 

Aufräumarbeiten in Ahrweiler (02.09.21) / © Thomas Frey (dpa)
Aufräumarbeiten in Ahrweiler (02.09.21) / © Thomas Frey ( dpa )

Meyrer: Ich habe es jetzt nicht im Einzelnen verfolgt. Dafür habe ich auch jetzt die Kraft und die Zeit nicht, mich mit dem zu beschäftigen, was Politikerinnen und Politiker alles tun und lassen. Dafür sind die Herausforderungen jetzt hier immer noch zu groß. Aber ich finde, warum sagt man, sie hat um Entschuldigung gebeten. Aber ich habe nicht klar verstanden, wofür, wo der Fehler denn ist. Dann muss sie Fehler gemacht haben und dann muss man für die Fehler auch geradestehen. Und wenn sie sagt, sie will Schaden von dem Amt abwenden, dann mache ich mir schon Sorgen auch um unsere Politikerinnen und Politiker. Wenn sie auf der einen Seite in der Öffentlichkeit oder vor dem politischen Gegner nicht sagen dürfen: Es ist einfach zu viel. Die Herausforderung ist zu groß - weil sie dann hingerichtet werden in der Öffentlichkeit. Oder wenn sie auf der anderen Seite die Verantwortung nicht übernehmen und nicht sagen: Ich habe Fehler gemacht und erkenne die Schwere auch an. Ich hoffe, dass unsere Politikerinnen und Politiker sowohl in der einen Richtung schwach sein dürfen, als auch in der anderen Richtung Stärke zeigen. 

Das Interview führte Florian Helbig.

Hintergrund: Bundesfamilienministerin Spiegel tritt zurück

Bundesfamilienministerin Anne Spiegel (Grüne) tritt nach Kritik an ihrem Umgang mit der Flutkatastrophe in Rheinland-Pfalz im Sommer 2021 zurück. Aufgrund des politischen Drucks habe sie sich entschieden, ihr Amt zur Verfügung zu stellen, sagte die 41-Jährige am Montag laut einer Mitteilung des Familienministeriums. "Ich tue dies, um Schaden vom Amt abzuwenden, das vor großen politischen Herausforderungen steht." Wer ihr nachfolgt, blieb zunächst offen. Die Grünen, die für das Ressort zuständig sind, kündigten "zeitnah" eine Entscheidung an.

Bundesfamilienministerin Anne Spiegel (Bündnis 90/Die Grünen) / © Christoph Soeder/dpa Pool (dpa)
Bundesfamilienministerin Anne Spiegel (Bündnis 90/Die Grünen) / © Christoph Soeder/dpa Pool ( dpa )
Quelle:
DR