DOMRADIO.DE: Ist es neu, dass so junge Menschen heiliggesprochen werden?
Ulrich Nersinger (Vatikanexperte und Autor): Das könnte man denken. Ich habe auch gedacht, dass es etwas Neues ist. Aber wenn man den Blick in die Geschichte wirft, wird man eines Besseren belehrt.
Gerade in den ersten christlichen Jahrhunderten, in der Frühzeit der Kirche, haben wir eine Unmenge von jugendlichen Heiligen. Ich denke da an Pankratius, Tarzisius und vor allem, wahrscheinlich den meisten von uns bekannt, die heilige Agnes. Das gab es schon früh. Dann gab es eine Zeit, in der es weniger war. Seit dem 19. Jahrhundert scheint es wieder mehr Impulse dafür zu geben.
DOMRADIO.DE: Was waren die Auslöser zu dieser neuen Welle von jungen Heiligen?
Nersinger: Auch junge Menschen sind gewissen Versuchungen und Gefahren ausgesetzt. Es gibt junge Leute, die sich zum Beispiel in Mexiko der diktatorischen Regierungspolitik am Anfang des 20. Jahrhunderts widersetzt und moralische Impulse gegeben haben.
Das ist ein vielseitiges Feld, das wir haben. Alle Bereiche des Lebens werden von diesen jugendlichen oder sogar kindlichen Heiligen abgedeckt.
DOMRADIO.DE: Die heilige Maria Goretti hat heute noch eine große Wirkmacht, warum?
Nersinger: Es gibt verschiedene Impulse, die von ihr ausgehen. Einer ist, dass ihre größte Sorge auf dem Totenbett nicht ihre Gesundung oder ihr Überleben war, sondern dem Verbrecher zu verzeihen. Er wollte sie vergewaltigen, und das ist ihm fast gelungen.
Sie hat die ganze Zeit um seine Bekehrung und um sein Seelenheil gebetet. Das hat gefruchtet. Sie ist selig- und heiliggesprochen worden, im Übrigen sogar im Beisein der Mutter.
Man sagt auch, dass der Täter anwesend gewesen ist. Zumindest ist er beim Selig- und Heiligsprechungsprozess vernommen worden. Er hat sich in ein Kloster zurückgezogen und dort Arbeiten verrichtet.
Dabei geht es um die Vergebung der Barmherzigkeit, die von den Heiligen ausgegangen ist. Dafür ist Maria Goretti ein besonderes Beispiel.
DOMRADIO.DE: Welche Botschaft geht von Carlo Acutis und Pier Giorgio Frassati aus?
Nersinger: Im Grunde sind das zwei Heilige, die einen Konzilsauftrag erfüllen. Das heißt, sie leisten einen Auftrag, der heute leider häufig vergessen oder in den Hintergrund gedrängt wird.
Das Zweite Vatikanische Konzil hat in einigen Dokumenten, vor allem in "Lumen gentium", die Berufung zur Heiligkeit betont und dargestellt. Das sind zwei junge Menschen, die das erfüllt haben. Sie sind über dieses allgemeine Verständnis, dass nur Ordensleute oder Priester Heilige sein können, hinausgegangen.
Ein weiterer großer Impulsgeber war auch Papst Johannes Paul II., der in diese Richtung gehen wollte. Er wollte beispielsweise für verheiratete Eheleute, die sich für den Glauben eingesetzt haben, die Heiligsprechung möglich machen.
Carlo Acutis ist jemand, der das Alte und Traditionelle mit dem Modernen auf unglaublich wunderbare Weise verbindet. Er zeigt, dass Menschen einem 2000 Jahre alten Glauben angehörig sein können und trotzdem in der Moderne leben. Er zeigt, dass sie diesen Glauben in die Moderne hinein produzieren oder transportieren können.
DOMRADIO.DE: Könnte das ein Anfang einer weiteren Welle mit jungen Heiligen sein, mit der die katholische Kirche versucht, junge Menschen zu erreichen?
Nersinger: Ich denke, ja. Das können doch Vorbilder und Fürsprecher sein. Man hört oft den Vorwurf, es gebe zu viele Heilige und Selige. Ich denke jedoch, es kann nicht zu viele Heilige und Selige geben.
Wir haben damit Vorbilder, die uns unterschiedliche Wege aufzeigen, wie Frassati und Acutis. Sie haben unterschiedliche Wege beschritten, die aber den gleichen Grund und das gleiche Ziel hatten.
Das Interview führte Oliver Kelch.