60 Prozent weniger Asylanträge! Diese Schlagzeile las ich in der vergangenen Woche in einer Zeitung. Die sogenannte Migrationswende mit ihren Maßnahmen – wie den Kontrollen an den Deutschen Außengrenzen – scheinen den gewollten Effekt zu haben. Spürbar weniger Menschen gelangen zu uns nach Deutschland. Das ist eine direkte Reaktion auf die von vielen als weitgehend unreguliert und unkontrolliert empfundene Zuwanderung seit der großen Flüchtlingskrise vor 10 Jahren. Das Pendel ist vielerorts zurückgeschwungen von "Wir schaffen das" und "Refugees Welcome" zu kritischeren, manchmal auch geradezu feindlichen Tönen gegenüber den Menschen, die bei uns Aufnahme suchen. Die Diskussion ist vielschichtig und oft emotional. Da ist von den Gefahren einer ungeregelten Einwanderung, von Kontrollverlust, von falschen Anreizen und vielem mehr die Rede.
Gleichzeitig gibt es eine andere Strömung, die jede Debatte über eine Regulierung von Migration pauschal als fremdenfeindlich ablehnt. Aber trotz aller schriller Extreme – die Debatte muss für mich stets im Rahmen unseres christlich-abendländischen Wertekanons geführt werden. Niemand begibt sich leichtfertig auf die Flucht und verlässt seine Heimat, seine Familie, seine Wurzeln! Geflüchtete müssen deshalb weiterhin im Rahmen des humanitären Völkerrechts bei uns Aufnahme finden können. Insofern sprechen wir uns auch als Christen weiterhin für eine menschenwürdige Aufnahme und Integration von Flüchtlingen aus. Wir stehen dafür ein, Schutzsuchenden weiterhin menschlich zu begegnen und ihre Grundrechte zu wahren.
Wir erbitten eine zügige und faire Bearbeitung von Asylverfahren unter Berücksichtigung humanitärer Gesichtspunkte, um lange Wartezeiten und Ungewissheiten für die Antragstellenden zu vermeiden.
Wir sprechen uns gegen Abschiebungen in Herkunftsländer aus, in denen die Gefahr für Leib und Leben von Geflüchteten groß ist. Wir stehen ein für den Zugang zu Bildung und Arbeit, für die Einhaltung internationaler Schutzstandards und setzten uns nicht zuletzt auch für die Wiederherstellung des Familiennachzugs, insbesondere für subsidiär Schutzberechtigte ein. Denn Familien, Eltern und Kinder gehören zusammen. Es ist ein Gebot der Nächstenliebe, dass gerade Geflüchtete und subsidiär Schutzberechtigte nicht über Jahre hinweg von ihren engsten Angehörigen getrennt bleiben. Vielmehr ist der Zusammenhalt einer Familie entscheidend für ein gutes Ankommen und eine gute Integration.
Wer seine Liebsten in seiner Nähe weiß, findet doch in unserer Gesellschaft schneller Halt, lernt schneller unsere Sprache und kann sich besser integrieren, um so ein Teil unserer Gesellschaft zu werden. Und ja, angesichts des demographischen Wandels, des Fachkräftemangels in unserer Gesellschaft, ihrer Überalterung und nicht zuletzt auch angesichts der niedrigen Geburtenrate brauchen wir Zuwanderung auch zur Stabilisierung unserer Sozialsysteme. Immerhin belief sich die Beschäftigungsquote der 2015 zugezogenen Flüchtlinge im Jahr 2024 auf 64 Prozent und hat sich damit an das durchschnittliche Niveau in der Gesamtbevölkerung von 70 Prozent deutlich angenähert.
Die gegenwärtig stattfindende 41. Interkulturelle Woche, die in diesem Jahr auf die Situation von Flüchtlingen blickt, lädt uns deshalb ein, der Menschlichkeit immer wieder eine Chance zu geben.
Ihr
Rainer Woelki
Erzbischof von Köln