Hildegard Aepli verbringt Woche als Inklusin in St. Mangen

Auf den Spuren der heiligen Wiborada

Wiborada ist eine fast vergessene Heilige. Sie lebte als Inklusin in St.Gallen. Wie es ist, eine Zeit in einer Zelle zu verbringen, möchten nun zehn Menschen herausfinden. Theologin Hildegard Aepli berichtet von ihren Erfahrungen.

Über 130 Menschen kommen zu Hildegard Aepli / ©  Christian Flemming (epd)
Über 130 Menschen kommen zu Hildegard Aepli / © Christian Flemming ( epd )

DOMRADIO.DE: Die Zelle, in der Sie waren, ist ein Nachbau der Originalzelle. Wie sieht die aus?

Hildegard Aepli (Seelsorgerin und Theologin): Im Unterschied zur Zelle von Wiborada, die damals aus Stein gemauert war, ist unsere Zelle mit 12 Quadratmetern zwar ähnlich groß, aber sie ist komplett aus Holz und hat ein Pultdach mit Wellblech obendrauf. Die Zelle hat ein Fenster nach innen. Wir haben die Mauer der Kirche Sankt Mangen durchbrochen, weil die Wiborada dieses Fenster auch hatte, damit sie am Gottesdienst teilnehmen konnte und die Zelle hat ein Fenster nach außen. Das ist zweimal am Tag eine Stunde geöffnet und da findet der Kontakt zu den Menschen statt.

DOMRADIO.DE: Jetzt haben sie eine Woche in dieser kleinen Zelle gesessen. Was haben Sie denn in dieser Zeit da gemacht?

Aepli: Wir als Gruppe haben uns natürlich ganz genau vorbereitet auf diese Zeit. Ich hatte einen klaren Tagesablauf. Der bestand aus lautem Beten, dann hab ich das Lukasevangelium verteilt über die Woche gelesen. Ich habe Psalmen auswendig gelernt. Ich bin einfach still meditierend über diesen Schrifttexten gewesen, habe noch einen Psalmen-Kommentar gelesen und eine Handarbeit hatte ich dabei. Das ist auch ein Zeichen für Inklusen beziehungsweise Reklusen.

DOMRADIO.DE: Bevor Sie in diese Zelle gegangen sind, haben Sie die Menschen, die in der mittlerweile reformierten Kirche Sankt Mangen zusammengekommen waren, um ihren Segen gebeten und sind dann mit zwei Laib Brot in diese Zelle gegangen und die Tür wurde hinter Ihnen geschlossen. Mit was für einem Gefühl haben Sie sich da wiedergefunden?

Aepli: Ja, dieser erste Samstag ist das Ende einer wahnsinnig anstrengenden Woche gewesen. Das ökumenische Projekt Wiborada 2021 ist da gestartet. So war für mich die erste Zeit an diesem Samstagabend einfach mal ruhig. Ich hatte alles geschafft und das, worauf ich mich solange vorbereitet und gefreut hatte, konnte jetzt beginnen.

DOMRADIO.DE: Es ist bestimmt ein komisches Gefühl hinter einer verschlossenen Tür zu sitzen. Aber Sie hätten wahrscheinlich im Zweifel, falls Ihnen plötzlich nicht gut gewesen wäre, irgendwie rauskommen können, oder?

Aepli: Ich selber hätte über das Fenster raus gekonnt. Das können ältere Inklusinen dann nicht. Aber wir haben von Anfang an gesagt, dass sich in der Zelle ein Schlüssel befindet. Es soll niemand in eine Panik geraten müssen, wenn jemand irgendwann spürt, dass es eben doch nicht für ihn geht. Diese Person soll dann rauskommen können.

DOMRADIO.DE: Jetzt haben Sie das natürlich nicht als Mutprobe gemacht, sondern Sie wollen mit dem Projekt der Heiligen Wiborada gedenken. Können Sie uns etwas über sie erzählen?

Aepli: Das Wichtigste ist, wir kratzen hier an einer Frauengeschichte und entdecken eine unglaublich mutige, selbstbewusste, spirituelle, gottbegabte Frau. Der Skandal an der Sache ist, dass sie hier in Sankt Gallen einen ganz kleinen Stellenwert hat. Man kennt sie kaum, in der Schule wird sie thematisch nicht behandelt. Hier weiß und lehrt man alles über Gallus und Vadian. Es gibt keine Straße mit ihrem Namen und dabei ist sie auch die erste Schweizer Heilige. Wir entdecken durch dieses Projekt den Skandal von vergessener Frauengeschichte insgesamt.

DOMRADIO.DE: Das kann man natürlich mit so einer Aktion ganz gut in die Köpfe der Menschen transportieren. War das auch Ihre Intention bei diesem Projekt?

Aepli: Ehrlich gesagt habe ich die Dimension, die jetzt dieses Projekt auslöst, nicht vorhergesehen. Ich wurde von jemandem gefragt, mal etwas über Wiborada zu schreiben. Aber wenn man etwas über diese Frau schreiben will, dann muss sich diese Person wenigstens temporär einschließen lassen, um das ansatzweise nachvollziehen zu können, was Wiborada für Sankt Gallen gelebt hat. Gallus ist der Gründer dieser Stadt, eine ganz wichtige Persönlichkeit. Wiborada ist die Bewahrerin, die Retterin der Stadt. Sie hatte bei einem Ungarn-Einfall 926 n. Chr. die Stadt vor diesem Unglück gewarnt. Die Mönche im Kloster haben auf sie gehört und haben sich, die Klosterschätze und die Stadtbevölkerung evakuiert. Sie haben Wiborada angeboten, sich auch befreien zu lassen. Das hätte sie gekonnt. Das hat sie abgelehnt und wurde von diesen Ungarn in ihrer Zelle erschlagen.

DOMRADIO.DE: Wiborada - das ist in der Tat eine imposante Geschichte. Obwohl Sie eigentlich weggesperrt waren in dieser Zelle, ging es in dieser Zeit dennoch auch um Seelsorge. Sie konnten mit der Außenwelt über Zettel kommunizieren. Da waren die Menschen eingeladen, ihnen was zu schreiben. Wie hat das funktioniert?

Aepli: Es waren eben die beiden Fenster. Am Fenster nach innen, in die Kirche, steht ein Stehpult und da können Menschen Anliegen schreiben und für diese Anliegen beten wir in der Zelle. Das andere Fenster nach außen ist zweimal am Tag eine Stunde geöffnet. Und da kommen die Menschen vorbei. Das war auch so verblüffend, dass in der Woche, in der ich eingeschlossen war, 137 Menschen an mein Fenster gekommen sind.

DOMRADIO.DE: Und die haben Ihnen auch Zettel gegeben?

Aepli: Zum Teil haben diese Menschen mir auch Zettel gegeben, aber überwiegend haben direkte Gespräche stattgefunden.

DOMRADIO.DE: Sie haben den Auftakt bei dieser Aktion gemacht. Insgesamt werden sich zehn Männer und Frauen noch bis Ende Juni in dieser Zelle einschließen lassen. Jetzt gibt es auch noch weitere Aktionen, um an Wiborada zu erinnern. Wie kommt das Gedenken an?

Aepli: Das Ziel unseres ökumenischen Projektes ist, dass so viele Menschen wie möglich auf unterschiedliche Weise mit Wiborada in Kontakt kommen. Es gibt zwei Ausstellungen: einen Stationenweg in der Kirche Sankt Mangen und in der Kirche Sankt Georgen, auch bei Sankt Gallen gibt es eine weitere Ausstellung. Dann gibt es für Jugendliche ein Actionbound. Es gibt Schreibwerkstätten, wo Psalmen neu geschrieben werden. Die Wiborada konnte ja alle 150 Psalmen auswendig. Es gibt Vorträge, es wird einen wissenschaftlichen Band geben am Ende des Jahres und es gibt täglich ein Abendgebet in der Kirche Sankt Mangen von Freiwilligen und zum Teil auch Profis gestaltet.

Das Interview führte Dagmar Peters.

 

Hildegard Aepli winkt zum Abschied / ©  Christian Flemming (epd)
Hildegard Aepli winkt zum Abschied / © Christian Flemming ( epd )
Quelle:
DR
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