Irischer Auslandspfarrer in Sorge um Nordirland

"Religion spielt eine untergeordnete Rolle"

In Belfast gibt es seit Tagen Krawalle. Die Polizei in Nordirland musste nach sechs Jahren wieder Wasserwerfer gegen randalierende Menschen einsetzen. Der Pfarrer Stephan Arras in Irland kennt die Unsicherheiten im Nachbarland. 

Jugendliche werfen in Richtung einer Polizeiblockade in der Nähe der Friedensmauern in Belfast, Nordirland / © Peter Morrison/AP (dpa)
Jugendliche werfen in Richtung einer Polizeiblockade in der Nähe der Friedensmauern in Belfast, Nordirland / © Peter Morrison/AP ( dpa )

DOMRADIO.DE: Als Auslöser der Krawalle gilt die Beerdigung eines ehemaligen Mitglieds der Irish Republican Army, je nachdem, wen man fragt, eine paramilitärische Organisation oder eine Terrororganisation. Was sind die Hintergründe dieser Eskalation im Moment?

Stephan Arras (Auslandspfarrer an der evangelisch-lutherischen Gemeinde in Dublin, Irland): Ja, in der Tat wird das als Auslöser genannt. Diese Beerdigung fand schon letztes Jahr im Juni statt. Da geht es um Bobby Storey, der eine wichtige Figur in der IRA gewesen ist. Wie gesagt, das ist schon eine Weile her und es ist wahrscheinlich sehr hergeholt, dass man das jetzt zum Anlass nimmt.

Der Hintergrund war, dass bei dieser Beerdigung, glaube ich in Nordirland nur 30 Menschen erlaubt waren und es waren ziemlich sicher über 1.000 da. Und da sagen die Gegner, das sei eine ungerechte Behandlung, weil die Menschen, die da zur Beerdigung gingen, nicht zur Rechenschaft gezogen wurden, für das Brechen der Corona-Schutzmaßnahmen.

DOMRADIO.DE: Und wer sind jetzt die Krawallmacher?

Arras: Die Geschichte hat natürlich verschiedene Facetten. Die Krawallmacher, wenn man sich die Bilder anguckt, sind Jugendliche. Aber dahinter steckt im Grunde eine mehrschichtige Unzufriedenheit in Nordirland mit der jetzigen Situation. Also wenn ich mich richtig erinnere, war das so: Als noch Theresa May an der Regierung war, hatte sie schon angedeutet, dass man mit dem Brexit so eine Art Grenze haben wird zwischen Großbritannien und Nordirland, aber mit ganz wenigen Einschränkungen. Damals tauchte Boris Johnson in Belfast auf und wurde ganz groß bejubelt. Als er dann sagte: Nein, da werden überhaupt keine Einschränkungen sein. Das United Kingdom wird vereint sein und es wird nirgendwo irgendwelche Grenzen oder Handelsbeschränkungen geben.

Das Vertragswerk, was Boris Johnson dann, nachdem er selbst Premierminister wurde, mit der EU abgeschlossen hat, sieht ja bekanntlich vor, dass jetzt in der irischen See eine Handelsgrenze liegt, also die EU-Außengrenze. Und da fühlen sich jetzt viele in Nordirland - die, die eigentlich mit Großbritannien gerne zusammenbleiben wollen -  verraten. Und diese Unzufriedenheit dürfte eine der tiefen Wurzeln in dem jetzigen wieder aufflammenden Konflikt sein.

DOMRADIO.DE: Also es geht mehr um den Brexit-Konflikt, als um konfessionelle Spannungen zwischen Protestanten und Katholiken?

Arras: Also meine Einschätzung ist - ich kenne jetzt Nordirland seit sechs Jahren - die Religion spielt nur noch eine untergeordnete Rolle. Also auch wenn man mit durchaus religiösen Menschen, auch mit Pfarrern dort redet, ist die eigentliche Frage immer: Fühle ich mich als Ire oder fühle ich mich eher als Brite?

Die Menschen, die sich als Unionisten bezeichnen, wollen eben mit Großbritannien gehen. Die stammen von ihren Familiengeschichten her vorwiegend aus Schottland oder England. Und die, die jetzt Sinn Féin (irisch-republikanische Partei, Anm. d. Red.) anhängen oder sich als Republikaner bezeichnen, das sind eben vorwiegend Katholiken. Aber das verändert sich rasant. Es gibt immer mehr Menschen, auch in Nordirland, die keiner Religion mehr angehören oder einer völlig anderen oder zugewandert sind, für die das Ganze einfach merkwürdig ist.

DOMRADIO.DE: Machen sich denn Ihre Gemeindeglieder Sorgen, dass das Karfreitagsabkommen, das den Bürgerkrieg in Irland beendet hat, jetzt wieder ins Wanken geraten könnte?

Arras: Also diese Sorge begleitet uns eigentlich, seit dem es auf den Brexit zulief. Nachdem sich Großbritannien für den Brexit entschieden hat, war zum einen klar, in Nordirland waren über 60 Prozent für die Europäische Union. Also das muss man klar sehen. Die Mehrheit wollte das nicht. Die Sorge war von vornherein, dass das wieder zu Unruhen genau an den Sollbruchstellen führt. Und genau das erleben wir ja im Moment gerade. Also dass die einen lieber ein vereintes Irland hätten und das ist eben die berühmte IRA auch, die dafür gebombt hat.

Auf der anderen Seite gibt es die, die sagen: Wir sind doch britisch, wir gehören doch eigentlich mit denen zusammen ins United Kingdom - und diese Spannung bleibt. Früher war es so, dass die Unionisten den großen Vorteil auf ihrer Seite hatten, weil es in Nordirland wirtschaftlich bis in die 90er Jahre und vielleicht noch ein bisschen danach viel besser ging als in der Republik. Aber das hat sich gedreht. Und jetzt geht es den Menschen in der Republik viel besser als in Nordirland. Auch das führt zu Verwerfungen und in dem Lager der Unionisten macht sich dadurch natürlich auch eine große Unsicherheit breit.

Das Interview führte Tobias Fricke.


Polizeiblockade in der Nähe der Friedensmauern in Belfast / © Peter Morrison (dpa)
Polizeiblockade in der Nähe der Friedensmauern in Belfast / © Peter Morrison ( dpa )
Quelle:
DR
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