Kardinal Marx über Demokratie und Nationalismus

"Das ist die Rechnung des globalisierten Kapitalismus"

Kardinal Marx macht sich Sorgen um Demokratie und Freiheit in der Welt. Mit DOMRADIO.DE sprach er darüber, wie er gegen nationalistische Tendenzen vorgehen will und welche Rolle die Kirche dabei spielen kann – und muss.

Kardinal Marx in Polen / © Grzegorz Mehring (ESZ)
Kardinal Marx in Polen / © Grzegorz Mehring ( ESZ )

DOMRADIO.DE: Das Erbe der Freiheitsbewegung Solidarnocs – sei der Kampf für die Freiheit, der nicht aufhöre. Das haben Sie gesagt. Wie meinen Sie das?

Kardinal Reinhard Marx (Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz): Ich spüre einfach, dass die Demokratie – und eine Grundlage der Demokratie ist ja die Freiheit – nicht von selber läuft. Ich glaube, das spüren wir alle mittlerweile. Das ist nicht nur auf bestimmte Länder bezogen, sondern gilt für die Welt insgesamt. Die Demokratie, so sagen manche Wissenschaftler, gerät sogar unter Druck und steht im Konkurrenzkampf mit anderen autoritären Formen des Regierens.

Die Demokratie ist kein Selbstläufer, sondern benötigt das Engagement der Menschen auch im Alltag und in der Zivilgesellschaft. Und in der Kirche sind wir Kämpfer für die Freiheit der Menschen, die ja Grundlage der Würde des Menschen ist. Deswegen haben wir die besondere Aufgabe, mit darauf zu achten, dass dieses kostbare Gut der Freiheit nicht in Bedrängnis kommt. 

DOMRADIO.DE: In Ihrer Würdigung der Solidarnosc-Bewegung haben Sie auch vor dem Hass und Auseinanderbrechen der Gesellschaft gewarnt. Das gilt sicher ganz aktuell für Polen, aber auch für Deutschland. Stichwort Chemnitz. Woran mag es liegen, dass zurzeit Polarisierer und nationalistische Trompeter so sehr auf dem Vormarsch sind?

Marx: Das ist natürlich eine Analyse, die nicht so einfach ist. Wir stellen zunächst einmal fest, dass es in vielen Ländern eine immer stärkere Polarisierung gibt, wie zum Beispiel in den Vereinigten Staaten. Da beobachte ich schon seit über zehn Jahren, dass die verschiedenen Gruppen der Gesellschaft kaum mehr miteinander im Gespräch sind. Bei uns beginnt das auch.

Vielleicht liegt es daran, dass wir in einer komplexen Welt leben, in der alles unübersichtlicher wird und die Sehnsucht nach einfachen Antworten da ist. Ich sage mal etwas überspitzt: "Das ist die Rechnung des globalisierten Kapitalismus." Darin enthalten sind soziale Kosten, es gibt ja auch Ungleichheiten in Europa. Darin enthalten sind auch politische Kosten, sodass fundamentalistische oder populistische Parteien nach oben kommen, weil Menschen sie wählen, die sich abgehängt und nicht gerecht behandelt fühlen und die nicht teilhaben können, wie die anderen – jedenfalls fühlen sie das so. Und natürlich gibt es noch die ökologischen Kosten.

Das heißt, es gibt so eine Gemengelage. Nach den großen Aufbrüchen nach 1989 wird jetzt sichtbar, dass nicht alle Gewinner und somit nicht alle vorne sind. Es gibt Ungleichheiten und Spannungen. Es gibt ganze Länder, die nicht mithalten können wie andere. Ich versuche das zu verstehen. Ob das eine Erklärung ist, weiß ich nicht, aber man muss jedenfalls zur Kenntnis nehmen, dass hier Tendenzen sind, die mir große Sorgen machen und die uns allen Sorgen machen müssen. Eine polarisierte Gesellschaft kann nicht gut in die Zukunft gehen. 

DOMRADIO.DE: Wie kann es denn gelingen, das Feuer wieder herauszunehmen?

Marx: Ich denke, als Kirche haben wir die Aufgabe – wie es das Konzil gesagt hat – das Sakrament der Einheit zu sein. Ich möchte bei uns im Bistum im Herbst zu Gesprächen einladen. Denn wir spüren ja, dass es auch in der Kirche immer unterschiedlichere Positionen gibt, die kaum miteinander vereinbar sind. Das ist nicht gut. Deswegen müssen wir Räume schaffen, in denen offen gesprochen wird und in denen Menschen ihre Bedrängnis und ihre Sorgen sagen können, ohne dass sie gleich in eine Ecke gedrängt werden. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es eine Alternative zu einem solchen Dialog gibt.

DOMRADIO.DE: An alle Christen geht der Appell: "Wir kennen keine Grenzen und keinen abgrenzenden Nationalismus." Diese zwei sind nicht miteinander vereinbar, oder?

Marx: Absolut nicht! Wir sind unterschiedlich, wir haben unterschiedliche Kulturen. Natürlich ist jeder Christ auch für sein Land ein Patriot. Da habe ich überhaupt kein Problem mit. Auch Heimatliebe ist für mich als Westfale selbstverständlich. Mir muss man nichts von Heimatliebe und Patriotismus erzählen.

Aber Nationalismus – eine Überhöhung der eigenen Nation – das ist eine Engführung und in diesem Sinne nicht christlich. Denn der Christ sieht alle Menschen als Brüder und Schwestern an. Jesus ist für alle gestorben. Er hat sich mit allen verbunden. Deswegen gibt es für uns keine Möglichkeit Grenzen zu ziehen, sondern grundsätzlich gehören wir als Menschen zusammen. 

Das Interview führte Johannes Schröer.


Kardinal Marx im Europäischen Solidarność-Zentrum / © Grzegorz Mehring (ESZ)
Kardinal Marx im Europäischen Solidarność-Zentrum / © Grzegorz Mehring ( ESZ )
Quelle:
DR
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