Vor 495 Jahren wurde Memmingen zur Wiege der Menschenrechte

Die "Zwölf Artikel" gelten als erste schriftliche Freiheitsrufe

​Sie gelten als erste dokumentierte Forderung nach Menschenrechten überhaupt: die "Zwölf Artikel", mit denen im März 1525 vor allem Bauern auf diverse Freiheiten von der Obrigkeit pochten. Verfasst wurde das Dokument in Memmingen.

Autor/in:
Christopher Beschnitt
Alte Dokumente in einem Archiv (shutterstock)

Zwei Originaldrucke verwahrt heute der dortige Stadtarchivar Christoph Engelhard. Im Interview mit der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) erzählt er, was zu den "Zwölf Artikeln" geführt hat und warum sie in einem Gemetzel endeten.

Katholische Nachrichten-Agentur (KNA): Herr Engelhard, sollte die Freiheitsstatue besser in Memmingen als in New York stehen?

Christoph Engelhard (Stadtarchivar in Memmingen): Jedenfalls ist Memmingen ein zentraler Ort für die Geschichte der Freiheit. Hier gab es 1525 mit den "Zwölf Artikeln" die erste schriftliche Formulierung von Freiheitsrechten in Bezug auf die einzelne Person und auf Basis des christlichen Menschenbildes. Ob die "Zwölf Artikel" wirklich die erste dokumentierte Forderung nach Menschenrechten sind? Nach aktueller Kenntnis wohl schon, aber ich will nicht ausschließen, dass es früher in anderen Teilen der Welt parallele Bestrebungen gab.

KNA: Bleiben wir im Allgäu. Im März 1525 kamen einige Dutzend Bauern aus der Region zwischen Ulm und Bodensee in Memmingen zusammen. Warum und wieso gerade dort?

Engelhard: Zunächst gibt es drei wesentliche historische Hintergründe. Erstens die fortschreitende Territorialisierung: Die frühmodernen Staaten erhoben neue Steuern und Abgaben, was die Bauern belastete. Zweitens eine kleine Eiszeit: Missernten verschärften die soziale Lage. Drittens die Reformation mit ihrem Eintreten gegen klerikalen Machtmissbrauch. Und Memmingen mit seiner großen, bis heute bestehenden Kramerzunftstube bot sich als Versammlungsort an. Die Reichsstadt war auch für ihre freie Debattenkultur bekannt.

KNA: Die Bauern einigten sich dann auf die "Zwölf Artikel". Wie lässt sich das Dokument zusammenfassen?

Engelhard: Wohl am wichtigsten ist darin die Forderung, die Leibeigenschaft der Bauern aufzuheben. Begründet hat das der nicht genannte Autor - sehr wahrscheinlich der Laienprediger Sebastian Lotzer - damit, "dass uns Christus alle mit seinem kostbaren Blutvergießen erlöst und erkauft hat, den Hirten ebenso wie den Höchsten, keinen ausgenommen". Ferner verlangte man zum Beispiel die freie Jagd, Pfarrerwahl und Gemeingut-Nutzung etwa von Wäldern sowie eine gerechte Besteuerung und eine nicht willkürliche Justiz.

KNA: Die Religion spielte demnach eine wesentliche Rolle für die Bauern. Wäre es nicht auch denkbar gewesen, angesichts des eigenen Elendslebens vom Glauben abzufallen?

Engelhard: Nein. Um 1500 erlebte Europa einen Höhepunkt an Religiosität. Seinerzeit war es unvorstellbar, nicht an Gott zu glauben. Daher schrieb man in die "Zwölf Artikel" auch, dass man Forderungen zurücknähme, sollten sie nicht in Einklang mit der Bibel zu bringen sein. An dieser Stelle lässt sich auch festmachen, dass die "Zwölf Artikel" kein revolutionäres Programm darstellten, also die Verhältnisse nicht umstürzen wollten. In ihnen steht: "Damit ergibt sich aus der Schrift, dass wir frei sind und das wollen wir sein. Aber nicht, dass wir ganz und gar frei sein und keine Obrigkeit haben wollen, das lehrt uns Gott nicht."

KNA: Welche Resonanz erfuhren die "Zwölf Artikel"?

Engelhard: Sie wurden in einer für damals unvorstellbar hohen Auflage von gut 25.000 Stück an 25 Orten gedruckt. Sie dürften derart erfolgreich gewesen sein, weil sie nicht zu spezifisch auf die Situation der Bauern in einzelnen Regionen abhoben, sondern mit dem Pochen auf die individuelle Menschenwürde Allgemeingültigkeit ausstrahlten. So sprachen sie vielen Menschen - nicht nur Bauern - aus dem Herzen.

KNA: Wie ging es weiter?

Engelhard: Nach der Versammlung der Bauern kam es zu Verhandlungen zwischen diesen und dem Schwäbischen Bund, einem Landfriedensbündnis von Fürsten, Klöstern und Städten. Der Bund entschied sich zu einer Militäraktion, als es zu einigen gewalttätigen Aktionen von Bauern, etwa Klostereinbrüchen und Brandstiftungen an Burgen, kam. Dann brachen im April 1525 besonders in Schwaben bürgerkriegsähnliche Zustände aus - der sogenannte Bauernkrieg -, die bis zum Juli andauerten. Am Ende gab es viele Zehntausend Tote, vor allem Bauern.

KNA: Haben die "Zwölf Artikel" dennoch langfristig Folgen gehabt?

Engelhard: Zunächst war jeder Protest erloschen. Aber das Fürststift Kempten einigte sich etwa mit seinen Untertanen Monate später auf den Memminger Vertrag, in dem eine fixe Steuerlast festgeschrieben wurde. Doch erst 1808 wurde die Leibeigenschaft in Bayern - eine Hauptforderung der "Zwölf Artikel" - aufgehoben. Zudem begann im 19. Jahrhundert die Bauernkriegsforschung. Einige dieser Forscher fanden sich 1848 unter den Abgeordneten der verfassungsgebenden Versammlung in der Frankfurter Paulskirche. Trotzdem sind die "Zwölf Artikel" ja bis heute aktuell: Noch immer leiden auf der Welt Menschen unter Ausbeutung und mangelnder Teilhabe.

 

Originaldruck der "Zwölf Artikel" aus Memmingen aus dem Jahr 1525 / © Christopher Beschnitt (KNA)
Originaldruck der "Zwölf Artikel" aus Memmingen aus dem Jahr 1525 / © Christopher Beschnitt ( KNA )
Quelle:
KNA