Priester berichtet über seine Erfahrung als Missbrauchsopfer

Der Wunsch nach einem heilenden Umgang

Ihn belastet der Missbrauchsskandal doppelt: Ein fränkischer Priester wurde selbst Opfer und erzählt als einer der ersten Geistlichen in Deutschland davon. Als Pfarrer vertritt er zugleich die Täter-Institution.

Autor/in:
Christian Wölfel
Eine Kerze brennt in der Sakristei / © Corinne Simon (KNA)
Eine Kerze brennt in der Sakristei / © Corinne Simon ( KNA )

"Es war schon etwas merkwürdig, dass der Präses dieses Jugendverbands, ein älterer Lehrer und Priester, ständig in der Dusche anwesend war", sagt Thomas, der in Wirklichkeit so nicht heißt. Mitte, Ende 50 ist er. Er sitzt in einem Garten hinter einem fränkischen Pfarrhaus. Seinem Pfarrhaus.

Denn Thomas ist selbst Priester und damit einer der ersten seines Berufsstandes, der in Deutschland die Geschichte seines eigenen Missbrauchs erzählt: "Er hat dann auch in kurzem Abstand immer wieder die Genitalien seiner ihm anvertrauten Jugendlichen untersucht." Auch die von Thomas, der Mitte der 70er Jahre als Gymnasiast in dem Jugendverband Mitglied war.

Täter war angesehener Geistlicher

Aus vier Bamberger Gymnasien kamen Schüler jede Woche zu den Jugendtreffen. Als sehr sportbetont beschreibt Thomas den damaligen Leiter und als einen, der die «68er-Mentalität auf katholisch» verkörpert habe. Offen und modern, aber auch gefürchtet. Gerüchte hätten schon damals die Runde gemacht, manche Eltern hätten ihren Söhnen die Mitgliedschaft deshalb verboten, sagt Thomas. Anderen Betroffenen, die Vater oder Mutter etwas erzählt hatten, schenkte man keinen Glauben, wie sie heute berichten.

Der mutmaßliche Täter war eine angesehene Persönlichkeit. Thomas hielt trotz allem weiter Kontakt. Der Geistliche schrieb ihm sogar ein Empfehlungsschreiben für die Aufnahme ins Priesterseminar. Auch bei der Primiz des Neupriesters war der frühere Präses der Jugendgruppe dabei. Umgekehrt nahm Thomas am Requiem für den Mitte der 2000er Jahre verstorbenen Geistlichen teil.

Erinnerung tut weh

"Wenn man mich vorher gefragt hätte, hätte ich diese Rituale in der Dusche beschreiben können", erinnert sich der Priester. Doch erst durch einen anderen Missbrauchsskandal im Jahr 2008 im Erzbistum Bamberg wurde Thomas klar, was früher in der Jugendgruppe geschehen ist. Er meldete sich beim Missbrauchsbeauftragten des Erzbistums, auf dessen Anregung auch bei der Staatsanwaltschaft. Der mutmaßliche Täter war aber bereits tot, die Tat blieb für ihn ohne Folgen.

Nicht jedoch für Thomas. Die Konfrontation mit der Erinnerung belastete und belastet ihn schwer. Sein Hausarzt schrieb ihn wochenlang krank, er nahm Psychopharmaka, "das erste Mal in meinem Leben". Deshalb möchte er auch anonym bleiben, würden ihn doch mögliche Zuschriften von anderen Opfern auch heute noch psychisch überfordern.

Eine schwierige Doppelrolle

Doch nicht allein die Schilderung des Falls, sondern auch der Umgang damit durch andere Mitglieder der Jugendgruppe belastet Thomas. Freunde aus der Zeit, die er ebenfalls bat, die Dinge zu melden, lehnten es ab. "Da sind auch Freundschaften daran kaputtgegangen, an dieser Nicht-Unterstützung: 'Lasst die Toten ruhen', sagte man."

Zu schaffen macht Thomas auch seine Doppelrolle: Zum einen ist er selbst Betroffener, zum anderen Vertreter der Täter-Institution. Als solcher erlebt er gerade, wie das Thema sexueller Missbrauch dazu führt, dass sich treue Mitglieder seiner Gemeinde von der Kirche abwenden.

"Über das Wochenende war ich nicht im Dienst, das hat schon damit zu tun. Einerseits: Ich stecke da mit drin in einer Weise, die nicht rückgängig zu machen ist oder nicht wegzudrücken ist. Und auf der anderen Seite bin ich damit konfrontiert, dass Menschen uns nicht mehr trauen und nicht mehr vertrauen."

Lob für neue Missbrauchsstudie

Doch die neue Missbrauchsstudie hat auch ihr Gutes. Andere Betroffene aus der Jugendgruppe von damals brechen ihr Schweigen und äußern sich, in geschlossenen Gruppen bei Facebook. Das Erzbistum Bamberg hat jetzt weitere Opfer aufgerufen, sich zu melden. Sechs Meldungen seien bisher eingegangen, sagt ein Sprecher

 In der Studie selbst sei bisher nur ein Fall des besagten Geistlichen erfasst. Doch die Wahrheit allein reiche nicht, so Thomas: "Ein heilender Umgang mit den Betroffenen wäre notwendig, ein empathischer Umgang. Und wichtig wäre es, die eigene Hilflosigkeit zu formulieren."

Im Nachruf auf den mutmaßlichen Täter heißt es übrigens, dass er Hunderte von Jugendlichen in ihrem Entwicklungsprozess geprägt habe. Dass er sie ermutigt habe, nicht zu schweigen.


Quelle:
KNA