"Zwölf Stämme"-Aussteiger über Faszination und Gefahr von Sekten

"Das konnte ich meinen Kindern nicht antun"

Vor vier Jahren gerieten die "Zwölf Stämme" in die Schlagzeilen: Die Behörden nahmen 40 Kinder aus der urchristlichen Sekte in Obhut. Einige Zeit zuvor hatte Robert Pleyer die Gruppe verlassen. Im Interview berichtet er über seine Erfahrungen.

Glaubensgemeinschaft "Zwölf Stämme" / © Daniel Peter (epd)
Glaubensgemeinschaft "Zwölf Stämme" / © Daniel Peter ( epd )

KNA: Nach Ihrem Ausstieg bei den Zwölf Stämmen haben Sie ein Buch über Ihre Erfahrungen mit der Gemeinschaft geschrieben, die Gewalt gegen Kinder für ein göttliches Gebot hält. Sie haben 20 Jahre in der Gruppe gelebt. Was hat Sie an den Zwölf Stämmen fasziniert?

Pleyer: Das Faszinierende war, dass diese Gruppe eine Vision, eine Hoffnung hatte. Ich war damals auf der Suche nach einer alternativen Lebensform - und ich hatte den Eindruck, dass die Zwölf Stämme das geboten haben. Das waren Menschen, die miteinander lebten, die alles teilten, sehr viel Freude und Zueignung zueinander ausdrückten. Ihr Zusammenleben machte einen sehr fröhlichen Eindruck, und das hat mich als jungen Menschen angesprochen.

KNA: Die Zwölf Stämme leben zudem sehr urtümlich. Trifft das heutzutage einen Nerv?

Pleyer: Ich glaube schon, weil immer mehr Menschen nach der Einfachheit im Leben und nach einem Miteinander suchen. Viele Menschen ziehen deswegen zum Beispiel in Wohngemeinschaften. Die Zwölf Stämme haben sich darauf spezialisiert, sich als fröhliche und harmonische alternative Lebensform zu präsentieren.

KNA: Was hat Ihre Meinung geändert?

Pleyer: Zweifel haben mich in all den Jahren begleitet. Ich bin innerhalb der Zwölf Stämme mehrfach getauft oder "restauriert" worden, weil ich immer wieder Zweifel hatte. Sie lagen vor allem in den Machtstrukturen begründet, die sich über die Jahre verändert haben. Als ich zu den Zwölf Stämmen gestoßen bin, ähnelte die Gruppe einer Hippiekommune - doch später wurde die Doktrin immer klarer. Das gravierendste Problem war die Kindererziehung. An meiner eigenen Frau, die bei den Zwölf Stämmen aufgewachsen war, habe ich gesehen, wie viele Dinge in einem Menschen zerstört werden können. Das konnte ich meinen eigenen Kindern nicht antun.

KNA: Wie sieht ein typischer Tag bei den Zwölf Stämmen aus?

Pleyer: Morgens wird man von einem Frühstücksteam geweckt: Es zieht singend und mit Instrumenten durchs Haus. Es folgt eine obligatorische Versammlung, die 20 Minuten oder über eine Stunde dauern kann. Dort schütten Mitglieder ihr Herz aus, sprechen über ihren Glauben, es wird gesungen, getanzt und zum Schluss gebetet.

Danach gibt es Frühstück, und dann beginnt für die Kinder der Unterricht, für die Erwachsenen der Arbeitstag. Am Abend zeigt das Ertönen des Schofars - das Horn einer Gazelle, das wie eine Trompete geblasen wird -, dass in einer Stunde die nächste Versammlung stattfindet. Danach wird gegessen und eventuell am Abend weiter gearbeitet oder Zeit mit der Familie verbracht.

KNA: Welche Besonderheiten gibt es für Kinder?

Pleyer: Mittags nach der Schule trifft man sich zum Mittagessen. Anschließend helfen die Kinder bei den Arbeiten der Eltern: die Mädchen meist den Müttern, die Jungs den Vätern. Gelegentlich gibt es auch Ernteeinsätze oder andere Projekte, an denen die Kinder unter Aufsicht gemeinsam teilnehmen. Ihre Arbeit ist zum Teil ein wichtiger Faktor in den gewerblichen Bereichen der Zwölf Stämme.

KNA: Spielen jetzt nach Ihrem Ausstieg Spiritualität und Glaube noch eine Rolle in ihrem Leben?

Pleyer: Schon, aber ich habe wenige Antworten auf meine Fragen. Zudem habe ich durch die Zeit bei den Zwölf Stämmen ein gewisses Immunsystem gegen religiöse Formen entwickelt. Ich versuche, meinen Kindern die Werte zu vermitteln, die man in vielen Religionen findet und die meiner Meinung nach göttliche, universale Werte sind. Aber ich habe momentan keine Form, in der ich das formulieren könnte.

KNA: Die Zwölf Stämme haben Deutschland kürzlich verlassen. Wie bewerten Sie diesen Schritt?

Pleyer: Das ist nicht unbedingt ein Fortschritt, weil sie vom Ausland aus genauso weitermachen werden wie vorher. Der Rückzug ändert in der Praxis nichts. In manchen Fällen werden Kinder, deren Eltern jetzt mit den Zwölf Stämmen in Tschechien leben, aus der staatlichen Obhut an die Familien zurückgegeben, weil die deutschen Behörden nicht mehr zuständig sind. Außerdem bin ich sicher, dass die Zwölf Stämme von Tschechien aus weiterhin versuchen werden, in Deutschland zu missionieren. Man hat das Problem also nicht behoben, sondern nur verlagert - und vor allem hat man den betroffenen Menschen nicht wirklich geholfen.

KNA: Wäre mehr internationale Zusammenarbeit gefragt?

Pleyer: Das ist eine schwierige Frage. Ich habe Kontakt zu einer Mutter, die zurzeit ihren Sohn verliert, der in die Zwölf Stämme gezogen ist. Selbst bei einem solchen persönlichen Kontakt ist es schwierig, zu helfen. Ich kann ihr nur raten, der Sache Zeit zu geben. An Gruppen wie den Zwölf Stämmen kann man wenig verändern. Aufklärung und Prävention sind die entscheidenden Aufgaben. Wichtiger, als einzelne Gruppen auseinanderzunehmen, wäre es, dafür zu sorgen, dass Menschen sich gar nicht erst von solchen Gruppen angezogen fühlen.

KNA: In ihrem Buch klingt immer wieder an, dass das erodierende Wertesystem zur Anziehungskraft von Sekten beiträgt. Könnten beispielsweise die Kirchen dem entgegenwirken?

Pleyer: Bei uns im ländlichen Bereich - ich wohne in Ostbayern - hat die Kirche noch eine besondere Stellung; der Herr Pfarrer ist eine wichtige Person. Meiner Meinung nach verpasst er es aber, Kindern den Glauben zu vermitteln. Er vermittelt Rosenkranzgebete und Rituale, aber nichts über Glauben. Da wünschte ich manchmal, ich hätte mehr Möglichkeiten, Menschen einen Weg zur Spiritualität zu zeigen - auch als jemand, der keiner Religion angehört. Viele Menschen suchen eigene Wege für ihren Glauben und möchten sich nicht mehr von Gruppen antreiben lassen.

Das Interview führte Paula Konersmann.


Robert Pleyer / © Paula Konersmann (KNA)
Robert Pleyer / © Paula Konersmann ( KNA )
Quelle:
KNA