Pater Mertes sieht Missbrauch längst nicht gebannt

"Ich erlebe es zurzeit ganz konkret"

Pater Mertes machte vor zehn Jahren die ersten Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche Deutschlands öffentlich. Viel hat sich seitdem in der Aufarbeitung getan. Doch der Jesuit sieht Missbrauch in der Kirche bis heute nicht gebannt.

Pater Klaus Mertes / © Julian Stratenschulte (dpa)
Pater Klaus Mertes / © Julian Stratenschulte ( dpa )

DOMRADIO.DE: Drei ehemalige Schüler teilten Ihnen vor zehn Jahren mit, dass sie sexuell missbraucht wurden. Kamen die Infos für Sie aus heiterem Himmel oder hatten Sie vor 2010 eine Ahnung, dass es Missbrauch an Ihrer Schule, dem Berliner Canisius-Kolleg, gegeben haben könnte?

Pater Klaus Mertes (Ehemaliger Direktor des Canisius-Kollegs): Ich hatte aufgrund einer sich über zwei Jahrzehnte haltenden Gerüchtestruktur eine Ahnung. Ich hatte auch zwei einzelne Meldungen im Jahr davor bekommen, beide allerdings unter dem Siegel der Verschwiegenheit. Ich hatte die beschuldigten Täter nach oben weitergemeldet. Aber die Opfer baten um absolute Diskretion. Das Neue war für mich, dass ich von den drei Männern, die zu mir gekommen waren, ausdrücklich das Mandat bekommen hatte, aufgrund ihrer Erzählungen zu handeln.

DOMRADIO.DE: Die Offenlegung ist zwar jetzt schon zehn Jahre her, die Taten liegen aber wesentlich weiter zurück in der Vergangenheit. Warum hat es so lange gedauert, zu merken, dass Missbrauch in kirchlichen Institutionen stattgefunden hat?

Mertes: Erst einmal brauchen die Opfer selbst lange, um zu sagen, dass sie missbraucht worden sind. Das ist ja der Unterschied zur Vergewaltigung, bei der der Täter sofort für das Opfer als Täter klar ist. Matthias Katsch (Gründer der Betroffeneninitiative "Eckiger Tisch", Anm. d. Red.), der auch bei mir war, hat jetzt in einem Buch beschrieben, wie bei ihm der Prozess verlaufen ist. Erst 20, 30 Jahre später hat er überhaupt erst begriffen, was ihm geschehen ist.

Der zweite Grund, warum das so lange dauert, ist, dass das eine Information ist, die in der Institution nicht gern gehört wird, weil sie eben weh tut, das Selbstbild beschädigt und zu komplexen Loyalitätssproblemen führt. Denn es gibt auch Loyalitätsfragen, die sich in Bezug auf ein angemessenes Verfahren gegenüber dem Beschuldigten stellen.

DOMRADIO.DE: Thema "angemessen": Gerade dreht sich die Diskussion um die Höhe der Entschädigungszahlungen an die Missbrauchsopfer. Manche Opfer wollen, dass es der Kirche oder den Orden weh tut. Wie weh würde es den Jesuiten denn tun, wenn sie, sagen wir, 300.000 Euro pro Entschädigungsfall zahlen sollten?

Mertes: Wenn wir alle unsere Schulen, Hochschulen schließen und die Immobilien verkaufen würden, würden wir nicht im Ansatz die Summen aufbringen können, die hier gefordert werden. Ich habe diesen Wunsch nach dem Wehtun auch immer verstanden und akzeptiert. Nur das Wehtun bezieht sich ja nicht nur auf das Geld, sondern auch darauf, die Zeit zu investieren, die Nachricht zuzulassen und sich für eine Veränderung des eigenen Systems bereit zu machen.

Es ist ja auch ein großer Wunsch der Opfer, dass sich das System verändert, damit sich so etwas nicht wiederholt. Das sind ja auch schmerzliche Prozesse. Mich stört an der Entschädigungsfrage die Fixierung auf das Geld. Geld ist ein Aspekt von Entschädigung, aber Geld allein führt nicht weiter und bringt keinen Frieden.

DOMRADIO.DE: Wäre Missbrauch, wie Sie ihn öffentlich gemacht haben, in der Kirche im Jahr 2020 fortfolgend so noch möglich?

Mertes: Ja, ich erlebe es zurzeit ganz konkret.

DOMRADIO.DE: Wollen Sie darüber reden?

Mertes: Nein. Da sind wir wieder bei dem riesigen Problem, dass wir es mit hochkomplexen Dingen zu tun haben, bei denen die Täter dann die Vorwürfe bestreiten und gegen die Opferaussagen klagen. Die Gerichte würden dann aufgrund der Unschuldsvermutung die Klage des Opfers zurückweisen. Wir haben diese Prozesse aktuell am Laufen und ganz aktuell nach wie vor die geistlichen Missbrauchssysteme, in denen schwerwiegende Übergriffe auf die Freiheit und die Autonomie der Mitglieder stattfindet. Zum Teil manchmal vor den Augen der Öffentlichkeit, auch der kirchlichen, einschließlich der Hierarchie.

DOMRADIO.DE: Jetzt versuchen Laien und Bischöfe in einem Dialogprozess, die katholische Kirche in Deutschland zu reformieren, auch ein bisschen was an der Hierarchie zu tun. Der Synodale Weg ist ein Ergebnis unter anderem aus den Missbrauchsfällen. Was wünschen Sie sich vom Synodalen Weg?

Mertes: Ich wünsche mir vom Synodalen Weg einen mutigen Schritt nach vorne, um in den gesamtkirchlich relevanten Fragen auch in Rom vorstellig zu werden und zu sagen: Hier muss sich gesamtkirchlich etwas verändern und nicht nur in Deutschland.

Das Interview führte Tobias Fricke.


Quelle:
DR
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