65.000 Menschen bei Konzert gegen Rechts in Chemnitz

Und wie nun weiter?

Bands wie die "Toten Hosen" und "Kraftklub" lassen Chemnitz für einen Abend rassistische Aufmärsche vergessen. Es bleibt friedlich. Doch gelöst ist das Problem noch lange nicht, meint der dortige Hochschulpfarrer Christoph Herbst.

Zuschauer vor dem Konzert unter dem Motto «#wirsindmehr» in Chemnitz / © Sebastian Willnow (dpa)
Zuschauer vor dem Konzert unter dem Motto «#wirsindmehr» in Chemnitz / © Sebastian Willnow ( dpa )

DOMRADIO.DE: Wie haben Sie denn persönlich die letzten Tage in der Stadt erlebt?

Dr. Christoph Herbst (Evangelischer Studierenden- und Hochschulpfarrer für die TU Chemnitz und Pfarrer in der St.-Petri-Schloßkirchgemeinde Chemnitz): Ich habe gestern in Chemnitz Festivalstimmung erlebt. So muss man das wirklich sagen. Ich habe sehr viele junge und alte Menschen aus der Stadt, aber auch von außerhalb kommen sehen. 65.000 Leute, fast ausschließlich friedlich, das gab es wirklich sehr lange Zeit nicht. Und mir persönlich hat es sehr gut getan, nach den Konfrontationen der letzten Tage diese nicht unernste, aber doch gelöstere Atmosphäre zu erleben. Ich denke, das war gut.

Aber ich glaube, dass mit diesem Konzert natürlich kein einziges Problem beseitigt ist. Sondern: Jetzt fangen die Aufgaben, die gestern auch benannt worden sind, erst an.

DOMRADIO.DE: Sie sind als Hochschulpfarrer vor allem in Kontakt mit jungen Leuten. Wie sehr waren bei denen die Ausschreitungen und die rechte Stimmung in der Stadt ein Thema?

Herbst: Die sind ein großes Thema. Viele von denen, mit denen ich in der Jugend-Kirchgemeinde und in der Studentengemeinde zu tun habe, sind auch am Samstag bei der Demonstration "Herz statt Hetze" und am Sonntag bei der Kundgebung der Kirche sowie gestern beim Konzert gewesen. Und die erlebe ich als sehr wach, aber auch mit einem klaren Bewusstsein, dass gesellschaftlich wirklich eine große Aufgabe vor uns liegt.

Man muss vielleicht noch sagen, dass die TU Chemnitz ein wirklicher Leuchtturm der Internationalität ist. Hier gibt es mehr als 3.000 internationale Studierende aus 90 Nationen. 25 Prozent der Studentenschaft ist aus dem Ausland zu uns gekommen. Auch das ist Chemnitz und das ist für unsere Arbeit ein wirklich großer Schatz an Erfahrungen, auf die wir aufbauen können.

DOMRADIO.DE: Das klingt so als hätten Sie persönlich weniger mit Leuten zu tun, die so richtig "rechts" ticken, oder?

Herbst: Doch, das erlebe ich auch. Ich erlebe beides. Unter den Jugendlichen, mit denen ich zu tun habe, gibt es in der Tat wenige oder im Grunde keine, die ich als rechtsradikal oder rechtspopulistisch bezeichnen würde.

Aber ich wohne in einem normalen Haus, gehe durch die Straßen und unterhalte mich auch. Da begegnet mir das schon. Ich erlebe in Chemnitz eine sehr, sehr große Anspannung ist. Diese Anspannung will und wird auch so schnell nicht nachlassen. Es gibt Trauer und Zorn über dieses schreckliche Verbrechen des Totschlags an dem jungen Chemnitzer. Ich erlebe große Empörung, wie es sein kann, dass in unserer Stadt offen der Hitlergruß gezeigt wird und es zu Übergriffen kommt.

Aber ich erlebe eben auch das Gefühl, dass Menschen glauben, mit ihren Sorgen und ihrem Zorn nicht gehört zu werden. Ich spüre einen riesigen Gesprächsbedarf und auch eine nicht gelingende Kommunikation über die Fragen, wie wir die Migration und ihre Folgen bewältigen. Das ist ein großes Thema.

DOMRADIO.DE: Sie sagen, es gibt einen großen Gesprächsbedarf. Sind denn Gespräche mit Leuten, die sich alleingelassen fühlen, möglich?

Herbst: Das kommt auf das Setting an. Ich glaube, dass man nicht in der zugespitzten Atmosphäre von Demonstrationen sprechen kann. Sobald man in großen Gruppen redet, kommt es ganz schnell zur Polarisierung.

Aber ich glaube schon – und darin sehe ich auch eine wichtige Aufgabe –, dass es in kleineren Gesprächsrunden sehr wohl möglich ist. Das hat man auch an dem sogenannten Sachsen-Gespräch des Ministerpräsidenten gesehen, das Ende voriger Woche war. Das ist anstrengend, aber es geht. Man muss sich nur wirklich bemühen und man muss darum kämpfen.

DOMRADIO.DE: Nun zeigen viele in ganz Deutschland auf Sachsen und sagen: "Das ist ja wieder typisch ostdeutsch!" Ist das Teil des Problems oder doch ein Stück Wahrheit?

Herbst: Das kann beides sein. Ich glaube schon, dass wir ein Problem mit verfestigten rechtsradikalen Strukturen haben. Das darf man auch nicht wegschieben.

Aber ich glaube auch, dass die zugespitzte Diskussion der letzten Tage bei manchen – gerade bei denen, die sich nicht gehört fühlen – zu einer Verfestigung geführt hat. Ich erlebe es so, dass die Polarisierung in den letzten Tagen noch weiter zugenommen hat. Ich habe auch erlebt, dass sich Menschen jetzt neu mit der AfD solidarisiert haben und sagen: "So kann man nicht mit uns umgehen". Das ist ein großes Dilemma.

Einerseits ist es so, dass man meines Erachtens klipp und klar auftreten und sagen muss, man darf nicht in einer Demonstration mitlaufen, wo der Hitlergruß gezeigt wird. Da darf es auch kein Wackeln geben.

Andererseits müssen wir versuchen, Menschen wieder ins Gespräch zu holen, die sich nicht gehört fühlen. Das ist das Dilemma und die Aufgabe.

DOMRADIO.DE: Jetzt ist es so, dass Christen in Ostdeutschland in der Minderheit sind. Welche Einflussmöglichkeiten sehen Sie überhaupt für Ihre Kirche in Chemnitz in diesen Tagen?

Herbst: Es ist wirklich so: Wir sind eine Minderheit, ein reichliches Zehntel der Bevölkerung in Chemnitz, etwa drei Prozent Katholiken, elf Prozent evangelische Christen. Da kann man die Möglichkeiten nicht überschätzen. Aber wir sind eine gut vernetzte und eine engagierte Minderheit. Ich glaube, man kann drei Dinge tun:

Das erste ist, dass wir auch in der Minderheit eindeutig und klar auftreten und sagen: "Es gibt vom Evangelium her gebotene Maßstäbe der Menschlichkeit, die unverbrüchlich gelten und zwar für alle". Das gilt auch in einer Situation der Trauer und des Zorns bei einem so schrecklichen Verbrechen wie dem Totschlag an dem jungen Chemnitzer durch zwei Asylbewerber. Auch da gibt es Grenzen, die nicht überschritten werden dürfen. Das müssen wir klar und eindeutig sagen.

Das zweite ist, dass wir die Netzwerke, die wir haben, nutzen müssen, um die Menschen aus verschiedenen Lebenswelten und Milieus neu ins Gespräch zu bringen. Und zwar nicht in einer so zugespitzten Atmosphäre wie in einer Großdemonstration. Wir müssen uns Formate überlegen, dass wir jenseits des Gebrülls zivilisiertes Hören und Reden neu einüben. Das ist für meine Begriffe ein Dienst, den wir an der Gesellschaft aus dem Geist des Evangeliums heraus tun können.

Das dritte ist, dass wir mithelfen können und müssen, und die Menschen ermutigen müssen, sich zu engagieren. Ich erlebe das auch so. Ich komme selbst aus dem Osten. Ich bin in Karl-Marx-Stadt geboren, deswegen darf ich das sagen. Ich erlebe hier im Osten manchmal noch eine allzu große Erwartung an das, was der Staat alles richten soll. Da gibt es eine Rückseite entsprechender Enttäuschungen, wenn diese Erwartungen nicht eintreten.

Ich glaube, dass wir als Kirche und als Gemeinde die Menschen, mit denen wir zu tun haben und die wir erreichen können, ermutigen müssen sich einzubringen, dass sie nach ihren Kräften an irgendeiner Stelle für das Ganze der Stadtgesellschaft mitwirken und sich nicht ins Private zurückziehen. Das ist auch eine ganz, ganz wichtige Aufgabe - gerade hier im Osten.

Das Interview führte Hilde Regeniter.


Pfarrer Dr. Christoph Herbst (privat)
Pfarrer Dr. Christoph Herbst / ( privat )
Quelle:
DR
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