Historiker und Hitler-Experte Ian Kershaw wird 75

Erzähler und akribischer Arbeiter

Die Literatur zum Nationalsozialismus füllt Bibliotheken. Selbst Fachleuten fällt der Überblick schwer. Ein britischer Historiker gilt als einer der besten Kenner: An diesem Sonntag wird Ian Kershaw 75 Jahre alt.

 (DR)

Warum hat ausgerechnet ein Brite einige der besten Bücher über Hitler und den NS-Staat geschrieben? Ursprünglich hat Sir Ian Kershaw in Liverpool, Oxford und Manchester mittelalterliche Geschichte studiert und gelehrt. Doch dann faszinierten ihn die deutsche Sprache, Kultur und Geschichte so sehr, dass er umsattelte.

Der 1943 in Oldham geborene Historiker gilt als meisterhafter Erzähler und akribischer Arbeiter. Seine zweibändige Hitler-Biografie, erschienen 1998 und 2000, wird als Standardwerk gerühmt. Der 2016 veröffentlichte erste Band einer europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts "Höllensturz" findet weltweit Beachtung. Am 29. April wird der Historiker, den Queen Elizabeth 2002 zum Ritter schlug, 75 Jahre alt. Wenige Tage später, am 3. Mai, erhält er wegen seiner Forschungen zur europäischen Geschichte und Identität in Aachen die Karlsmedaille für europäische Medien.

Tunichtgut und Postkartenmaler

Kershaw spricht fließend Deutsch; das lernte er nebenbei am Goethe-Institut von Manchester. 1983/84 hatte er eine Gastprofessur an der Ruhr-Universität Bochum. 1987 nahm er eine Professur für moderne Geschichte an der Universität Nottingham an. Zwei Jahre später wechselte er an die Uni Sheffield, an der er bis zu seiner Emeritierung 2008 lehrte.

Wie konnten die Deutschen einem rassistischen Tunichtgut und Postkartenmaler verfallen? Wie konnte der Holocaust in diesem kultivierten Land geschehen, und warum hielten die Deutschen im Zweiten Weltkrieg so lange durch? Das waren die Fragen, die Kershaw bewegten. 

Bibliographie

Sein erstes Buch über deutsche Geschichte befasste sich 1980 mit "Der Hitler-Mythos. Volksmeinung und Propaganda im Dritten Reich". In "Der NS-Staat" gab er 1988 einen Überblick über Strukturen der NS-Gesellschaft und Kontroversen. Auch mit dem Zweiten Weltkrieg und der deutschen Kriegsgesellschaft setzte er sich auseinander, etwa in den Büchern "Schlüsselentscheidungen im Zweiten Weltkrieg" (2008) und "Kampf bis in den Untergang" (2011).

Im Streit über die Bedeutung Hitlers gibt Kershaw beiden Interpretationsschulen ein wenig Recht. Sehen die "Intentionalisten" im Diktator Hitler den entscheidenden Motor der NS-Verbrechen, so begründen die "Funktionalisten" die wachsende Radikalisierung damit, dass die unteren Ebenen versuchten, in einem Wettlauf den "Führerwillen" im vorauseilenden Gehorsam zu erfüllen. 

"Höllensturz"

Kershaws salomonisches Ergebnis: Einerseits betrachtet er Hitler als Ausnahmeerscheinung. Ohne ihn kein SS-Staat, kein Weltkrieg und kein Holocaust. Andererseits sei Hitler aber nur Ausdruck gesellschaftlicher Kräfte gewesen, weil die Deutschen ihren Wunsch nach einem starken Führer auf seine Person übertragen hätten.

In seinem fulminanten Buch "Höllensturz" – laut Kershaw das schwierigste Werk, das er geschrieben hat - beschreibt der Historiker die Entwicklung Europas vom Vorabend des Ersten Weltkriegs bis zum beginnenden Kalten Krieg Ende der 40er Jahre. Als wesentliche Triebkräfte sieht er die explosionsartige Ausbreitung des rassistischen Nationalismus, Gebietsstreitigkeiten zwischen den Nationalstaaten, die sich zuspitzenden Klassenkonflikte und die lange andauernde Krise des Kapitalismus in den ersten Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts.

Schock über Europa

Vergleiche zwischen den 30er Jahren und der heutigen Zeit hält der Historiker für überzogen. Die demokratischen Kräfte in Europa seien heute weit stärker, auch wenn es in Ländern wie Polen oder Ungarn noch keine gefestigte demokratische Tradition gebe. "Das ist ganz anders als in den 1920er und 1930er Jahren. Vielleicht ist das Schlimmste auch schon vorbei", sagte er kürzlich im taz-Interview. Auch in Deutschland gebe es trotz AfD keine Parallelen zu Weimar: Die Demokratie sei gefestigt, und die Parteien seien weitaus stabiler als damals.

Der Brexit habe ihn zutiefst deprimiert, sagt Kershaw. "Aber es ist auch eine Chance für die EU, notwendige Reformen in Angriff zu nehmen." Der Schock darüber habe Europa ein bisschen aus seiner Selbstgefälligkeit gerissen. "Es wäre insgesamt an der Zeit, die Demokratie näher an die Massen zu bringen und ihnen zu zeigen, dass es in ihrem Interesse ist, an der Demokratie teilzuhaben."


Ian Kershaw / © Arno Burgi (dpa)
Ian Kershaw / © Arno Burgi ( dpa )
Quelle:
KNA