Bundespräsidentschaftskandidat Butterwegge im Interview

"Den Finger in die Wunde legen"

Die Linke hat den Armutsforscher Christoph Butterwegge als Kandidaten für das Amt des Bundespräsidenten aufgestellt. Eine wichtige Chance, auf soziale Probleme in Deutschland hinzuweisen, betont Butterwegge im domradio.de-Interview. 

Christoph Butterwegge / © Jörg Carstensen (dpa)
Christoph Butterwegge / © Jörg Carstensen ( dpa )

domradio.de: Die Große Koalition, die die Mehrheit in der Bundesversammlung stellt, hat angekündigt, gemeinsam Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier als Kandidaten zu unterstützen. Es gibt also rein theoretisch nicht die Aussicht, gewählt zu werden und trotzdem kandidieren Sie. Warum?  

Prof. Christoph Butterwegge (Politikwissenschaftler und Armutsforscher an der Universität Köln): Weil die Kandidatur natürlich die Möglichkeit bietet, auf die Probleme unserer Gesellschaft hinzuweisen, wenn man so will, den Finger in die Wunde zu legen und die Themen in die Öffentlichkeit zu bringen, mit denen ich mich jetzt seit langem beschäftige. Es geht nicht nur um Armut und Reichtum, darum, dass unsere Gesellschaft sozial tief zerklüftet ist, sondern auch um die politischen Folgen, die das hat: Dass die sozial Abgehängten weniger wählen, dass es dadurch eine Krise der politischen Repräsentation gibt, wohingegen Wohlhabende, Reiche und Hyperreiche beispielsweise durch Lobbytätigkeiten ihre Interessen immer stärker zum Ausdruck bringen und durchsetzen.

Das sind Probleme, die auch sehr stark nach sich ziehen, dass manche Menschen, die etwa in der Mittelschicht Angst vor dem sozialen Abstieg haben, sich rechtspopulistischen Demagogen zuwenden. Wir haben also genug Probleme, die ich in die Öffentlichkeit tragen kann. Und genau das kann man, wenn man dieses Amt anstrebt, das übrigens - wenn ich es bekommen würde - natürlich auch die Möglichkeit böte, durch eine Rede aufzurütteln. Ich denke da an die Ruckrede, wie sie Roman Herzog gehalten hat, nur eben in die entgegengesetzte Richtung; nicht in Richtung einer neoliberalen Agenda von mehr Markt, mehr Leistung, mehr Wettbewerbsfähigkeit und Leistungsdruck, sondern in Richtung von mehr Solidarität, sozialem Verantwortungsbewusstsein und sozialem Ausgleich. Das sind Möglichkeiten, die nicht nur mit dem Amt des Bundespräsidenten verbunden sind, sondern in kleinerer Dosierung natürlich auch schon mit der Kandidatur. 

domradio.de: Sie sprechen vom Ruck und der Kraft der Rede. Ist denn das Amt des Bundespräsidenten wirklich eines, das etwas bewirken kann oder sind es am Ende nur fromme Reden? 

Butterwegge: Wenn ich mir die Folgen dieser Ruckrede von Roman Herzog 1997 angucke, habe ich schon den Eindruck, dass die neoliberale Agenda, dass all das, was dann kam - die Agenda 2010, die Hartz-Gesetze, die Gesundheitsreform - durch eine solche Rede vorbereitet worden sind. Dass Einrichtungen wie die Bertelsmann-Stiftung oder die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft dann auch so gesellschaftsmächtig geworden sind, das hatte schon damit zu tun, dass man das Bewusstsein der Menschen in eine solche Richtung verändert hat. Da geht es um einen anderen Gerechtigkeitsbegriff; darum, nicht mehr Verteilungsgerechtigkeit anzustreben, nicht mehr Bedarfgerechtigkeit - was Menschen brauchen, muss man ihnen geben - sondern in Richtung Leistungsgerechtigkeit zu gehen - im Sinne von: Wer nichts leistet, soll auch nichts bekommen. Das ist eine grundlegende Veränderung unserer Gesellschaft, die auch mit Worten vorbereitet und eingeleitet wurde.

domradio.de: Seit gestern machen sich Menschen natürlich darüber Gedanken, wer dieser Professor Butterwegge ist, wofür er steht. Ein sehr klares Thema liegt da auf der Hand, nämlich die Agenda 2010. Die unterscheidet Sie mit Sicherheit von dem anderen Kandidaten, Frank-Walter Steinmeier. Er hat die Agenda 2010 mitentwickelt, Sie haben sich dagegen ausgesprochen. Was unterscheidet Sie denn vom Noch-Bundespräsidenten Joachim Gauck?

Butterwegge: Mir ist eigentlich auch sehr wichtig, die Freiheit als Grundwert unserer Gesellschaft zu betonen. Aber ich vermisse ein bisschen ihre soziale Einbettung. Nehmen wir die Reisefreiheit, die ein ehemaliger DDR-Bürger wie Joachim Gauck natürlich vielleicht noch höher hängt, als jemand, der wie ich im Westen aufgewachsen ist. Was nützt mir diese Reisefreiheit, wenn ich nicht das Geld habe, zu verreisen? Ich will darauf hinweisen, dass die materiellen, finanziellen Bedingungen, die notwendig sind, um Freiheit zu ermöglichen, stärker in den Fokus gehören. Ich finde, dass die in den Reden der bisherigen Bundespräsidenten genauso vernachlässigt worden sind, wie die soziale Frage als ein Kernthema unserer Gesellschaft. Fallen wir immer weiter auseinander? Wollen wir in einer solidarischen Gesellschaft leben oder in einer Hochleistungs- Konkurrenz- und Ellenbogengesellschaft? Das sind Fragen, die - finde ich - ein bisschen zu kurz gekommen sind. 

domradio.de: Lassen Sie uns zum Schluss auch noch die Frage aufwerfen, was sie eigentlich den Kirchen mit auf den Weg geben wollen. Als Armutsforscher haben Sie bestimmt die beiden caritativen Einrichtungen der großen Kirchen sehr vor Augen. Warum ist es wichtig, auch mit denen ins Gespräch zu kommen und denen etwas mit auf den Weg zu geben?

Butterwegge: Für mich kann eine grundlegende Veränderung - von mehr Solidarität, mehr sozialem Verantwortungsbewusstsein, mehr Gleichheit in der Gesellschaft - nur in einem breiten Bündnis verwirklicht werden. Da müssen die Gewerkschaften, Kirchen, Parteien, Wohlfahrtsverbände, aber auch zum Beispiel Globalisierungskritiker an einem Strang ziehen. Bei den beiden christlichen Kirchen habe ich ein bisschen vermisst, dass sie seit dem gemeinsam Wort 1997 doch ihre Stimme nicht mehr so laut erhoben haben, wie das nötig gewesen wäre, um auf diese tiefe Kluft zwischen Arm und Reich hinzuweisen.

Ich will mal eine Zahl nennen, weil Sie die in der Öffentlichkeit sonst selten hören: 994,7 Millionen Euro hat das reichste Geschwisterpaar unseres Landes, Susanne Klatten und Stefan Quandt, im Frühjahr dieses Jahres als Rekorddividende aus BMW für das letzte Jahr bezogen. Und den beiden gehören ja nicht nur Aktien von BMW, sondern auch die anderer Konzerne und andere Wertpapiere, Ländereien, Immobilien etc.. Dass es auf der einen Seite einen solchen unvorstellbaren Reichtum gibt und auf der anderen Seite viele hunderttausend alleinerziehende Mütter im Hartz-IV-Bezug, die wahrscheinlich am 20. des Monats froh sind, wenn sie für ihre Kinder noch etwas Warmes auf den Tisch bekommen, das finde ich, ist ein so großer Skandal in einer so reichen Gesellschaft wie unserer. Da müssten die Kirchen noch viel stärker den Finger in die Wunde legen. 

Das Interview führte Daniel Hauser.


Quelle:
DR