Mehr verschwörungsideologischer Antisemitismus

Verdoppelte Anzahl an Fällen

Ein Bundesverband zum Thema Antisemitismus verzeichnet einen massiven Anstieg antisemitischer Vorfälle mit verschwörungs­theoretischem Hintergrund. Viele der Fälle hätten eine Verbindung zur Corona-Pandemie.

Autor/in:
Anita Hirschbeck
Symbolbild Thorarolle / © Olesya Baron (shutterstock)

In der Corona-Pandemie seien Behauptungen aufgetaucht, Juden verbreiteten das Virus, um die Welt zu kontrollieren, sagte die Referentin für Bildung des Bundesverbandes der Recherche und Informationsstellen Antisemitismus (RIAS), Tanja Kinzel, am Donnerstag bei einem Fachforum in Bonn. Zudem lehnten Anhänger von Verschwörungsmythen die Corona-Maßnahmen ab, da sie hinter diesen jüdische Einflussnahme vermuteten.

Zwischen Mitte März und Mitte Juni 2021 verzeichnete RIAS laut einer vorläufigen Erhebung rund 750 Vorfälle von modernem Antisemitismus. Davon hatten etwa 400 einen Corona-Bezug. Im Vergleich zum Vorjahr habe sich die Gesamtzahl der Vorfälle beinahe verdoppelt, sagte Kinzel.

Bei beinahe allen der 400 Meldungen mit Corona-Bezug handelte es sich um verletzendes Verhalten, darunter Kundgebungen mit antisemitischen Redebeiträgen oder Plakaten. In einem Fall ging es um einen Angriff.

Verschwörungsmythen und Judenfeindlichkeit

Die Antisemitismusbeauftragte des Landes Nordrhein-Westfalen, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, warnte vor dem Zusammenspiel von Verschwörungsmythen und Judenfeindlichkeit. "In schwierigen und komplexen Situationen wie zum Beispiel der Pandemie nehmen Unsicherheiten und Ängste zu", sagte sie. "Einfache Feindbilder und alte Verschwörungsmotive treffen auf fruchtbaren Boden."

Die Direktorin des Anne Frank Zentrums, Veronika Nahm, erinnerte an den antisemitischen Anschlag von Halle, der sich am Samstag zum zweiten Mal jährt. Verschwörungsmythen könnten tödliche Konsequenzen haben, warnte sie. Menschen, die sich verschwörungsideologisch äußerten, seien keine "verrückte" Kleingruppe, die man links liegen lassen könne.

Befragung zu Verschwörungsmythen

Laut Erwerbspersonenbefragung der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung neigt fast jede fünfte Erwerbsperson in Deutschland in hohem Ausmaß zu Verschwörungsmythen, zweifelt an der Gefährlichkeit des Corona-Virus und kritisiert grundlegend die Schutzmaßnahmen der Pandemie.

Überdurchschnittlich verbreitet sind demnach Verschwörungsmythen unter Menschen mit wenig Einkommen oder niedrigem Schulabschluss, in Ostdeutschland, bei jüngeren Befragten und solchen, die bislang keine Corona-Infektionen in ihrem näheren Umfeld hatten oder die unter der Pandemie finanziell gelitten haben.

Diese Muster deuteten darauf hin, dass sowohl Gefühle von "Ohnmacht und Kontrollverlust" und der Eindruck, persönlich nicht oder weniger stark vom Virus bedroht zu sein, Corona-Zweifel begünstigten, erläuterte Studienautor Andreas Hövermann.

Antisemitische Vorurteile

Für die Untersuchung ließ die Stiftung im Juni und Juli mehr als 5.000 Erwerbstätige und Arbeitsuchende online befragen. Sie zog keine Schlüsse zum Thema Judenfeindlichkeit. RIAS-Expertin Kinzel erläuterte jedoch, dass viele Verschwörungsmythen auf antisemitische Vorurteile zurückgriffen. Beide Phänomene erfüllten ähnliche Funktionen: Sie dienten etwa als Erklärungen einer komplexen Welt.

Das Fachforum "Verschwörungsmythen: Graubereiche und ihre Schnittstellen zum Antisemitismus" veranstaltete das Kompetenznetzwerk Antisemitismus, zu dem auch RIAS gehört, mit dem Büro der Antisemitismusbeauftragten.


Jude auf einem jüdischen Friedhof / © Jean-Francois Badias (dpa)
Jude auf einem jüdischen Friedhof / © Jean-Francois Badias ( dpa )
Quelle:
KNA
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