Experten fordern mehr Einsatz gegen zunehmenden Antisemitismus

"Aufstehen und gehen, wenn Judenwitze gemacht werden"

75 Jahre nach Ende der Nazi-Herrschaft sind judenfeindliche Schimpfwörter wieder Alltag auf deutschen Schulhöfen. Jüdische Schüler haben Angst, ihre Glaubenssymbole offen zu zeigen, mahnten Experten bei einer Tagung.

Gebet des jüdischen Morgengebetes, des Schacharits (KNA)
Gebet des jüdischen Morgengebetes, des Schacharits / ( KNA )

Deutliche Worte findet Dieter Burgard, wenn er antisemitische Vorfälle skizziert. Er berichtet davon, dass "der Mob durch Straßen zieht, offen antisemitische, brutale Parolen skandiert, Menschen hetzt, israelische Fahnen verbrennt".

Er erzählt von Friedhofsschändungen, Graffiti-Schmierereien, Angriffen auf Synagogen und körperlichen Attacken gegen Juden. Es ist kein historisches Referat über die 1930er Jahre - es ist eine aktuelle Situationsbeschreibung, die der 2018 eingesetzte Antisemitismusbeauftragte von Rheinland-Pfalz vornimmt.

"Zu lange verschwiegen, ja verharmlost"

Burgard war der erste von mittlerweile sieben Antisemitismusbeauftragten in den Bundesländern. Er äußerte sich am Freitag in Mainz bei einer Tagung zu Antisemitismus als Herausforderung für die Politische Bildung. "Zu lange wurde dieses Thema in Deutschland als Tabu betrachtet, verschwiegen, ja verharmlost", sagte Burgard. Jeder Einzelne müsse Haltung zeigen: "Es ist Zeit, aufzustehen und zu gehen, wenn Judenwitze gemacht werden."

Daran knüpfte zum Auftakt der Tagung am Donnerstag der prominenteste Redner, Altbundespräsident Christian Wulff, an. Antisemitismus sei nicht nur ein Problem von Schulen und anderen Bildungseinrichtungen. "Wir sind alle zuständig und niemand darf sich aus dieser Verantwortung stehlen", sagte Wulff. Er zeigte sich 74 Jahre nach dem Ende der Schreckensherrschaft Hitlers besorgt darüber, "dass wieder Rassisten in Deutschland im Parlament sind".

Wulff verwies auf Politiker-Aussagen über Boris Beckers Sohn Noah und Fußballer Jerome Boateng; sie waren aus Kreisen der AfD wegen ihrer dunklen Hautfarbe rassistisch beleidigt worden. "An vielen Stellen werden heute Dinge gesagt, die vor Jahren noch undenkbar gewesen wären, dass sie gesagt werden - geschweige denn von Parlamentariern des Deutschen Bundestags."

"Zeichen von mangelndem Rückgrat"

Mit Aussagen, dass nach fast einem Dreivierteljahrhundert Schluss sein müsse mit der deutschen Vergangenheitsbewältigung, kann Wulff nichts anfangen. "Unser Land ist doch gerade deshalb heute so positiv zu betrachten, weil es sich mit seiner Vergangenheit so intensiv auseinandergesetzt hat."

Zugleich verwies Wulff auf judenfeindliche Äußerungen aus den Reihen von Geflüchteten aus dem Nahen Osten. Es gebe in der Öffentlichkeit bisweilen eine gefährliche Zurückhaltung, diese als Antisemitismus zu bezeichnen. Auch im Umgang mit Flüchtlingen müsse der Wertekanon der deutschen Gesellschaft gelten. "Antisemitismus zu tolerieren ist kein Zeichen von interkultureller Kompetenz, sondern ein Zeichen von mangelndem Rückgrat."

Dem Appell schloss sich die gastgebende rheinland-pfälzische Bildungsministerin Stefanie Hubig (SPD) an. Um demokratische Grundwerte kompromisslos verteidigen zu können, "braucht es vor allem eines: Bildung", betonte sie. Es sei daher in Rheinland-Pfalz vorgesehen, dass jeder Jugendliche im Laufe seiner Schulzeit wenigstens einmal einen Ort des Erinnerns besucht oder in Kontakt mit den Berichten von Zeitzeugen kommt. Das Land biete Fortbildungen an und stelle neue Unterrichtsmaterialien zur Verfügung.

Workshops für gewaltfreie Kommunikation

Einen Einblick in die Praxis gab die Frankfurter Soziologin Julia Bernstein, die zu Antisemitismus im schulischen Bereich forscht. Schimpfworte wie "du Jude" seien Alltag auf deutschen Schulhöfen, auch wenn sich Kinder nicht immer des Hintergrundes bewusst seien. Jüdische Schüler hätten inzwischen Angst davor, ihre Glaubenssymbole öffentlich zu zeigen. "Aus der Perspektive der jüdischen Betroffenen ist das Problem alarmierend."

Bernstein hat an einer Studie mitgewirkt, bei der mehr als 200 Interviews an über 170 Schulen geführt wurden. "Ein zentraler Befund ist, dass die Lehrkräfte die Situation prinzipiell anders wahrnehmen als die Betroffenen." Teilweise werde das Problem nicht im Kern erkannt, werde Mobbing gegen Juden nicht als genuin antisemitisch wahrgenommen. Wenn Mobbing eskaliere und in Gewalt ausarte, "ist es in der Regel zu spät und die Kinder müssen die Schule wechseln".

Bernstein riet zu Workshops und Unterrichtseinheiten gegen Vorurteile und für gewaltfreie Kommunikation.

Von Michael Merten


Quelle:
KNA
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