Vor 60 Jahren gründeten Überlebende den Zentralrat der Juden

"Eine Erfolgsgeschichte"

Der Zentralrat der Juden in Deutschland wurde am 19. Juli 1950 in Frankfurt am Main gegründet. Der Zentralrat vertritt die Interessen der jüdischen Gemeinschaften in Gesellschaft und Politik und setzt sich für die Verständigung von Juden und anderen Religionen und Bevölkerungsgruppen ein. Eine Erfolgsgeschichte.

Autor/in:
Christoph Strack
 (DR)

Eigentlich, sagt Stephan Kramer, war die Gründung ein Schritt zur Abwicklung. Beim Start des Zentralrats der Juden in Deutschland am 19. Juli 1950 "hatte man das Kapitel Juden in Deutschland eher abgeschlossen", blickt der Generalsekretär der Organisation zurück. Und spricht von einer Liquidationsgesellschaft.

1950 lagen das Ende des Dritten Reiches und das unvorstellbare Grauen der Schoah gerade einmal gut fünf Jahre zurück. Und in Deutschland lebten noch rund 15.000 Juden - ein Rest. Vor dem Holocaust waren es an die 600.000. 60 Jahre später zählt die jüdische Gemeinschaft wieder rund 105.000 Mitglieder. Und nicht zuletzt die Kontroverse um die Einbeziehung der liberalen jüdischen Gemeinden in die staatliche Förderung sowie das öffentliche Interesse an der Präsidentschaft zeigen, wie sehr der Zentralrat in der deutschen Gesellschaft verankert ist.

Wiedergutmachung der nationalsozialistischen Verbrechen
In der jungen Bundesrepublik sah es das Gremium als Hauptaufgabe an, auf die Gesetzgebung zur Wiedergutmachung der nationalsozialistischen Verbrechen einzuwirken. Auf israelischer Seite bestand lange eine verbreitete Erwartung, dass die Juden aus dem Land der Mörder in den Judenstaat übersiedeln sollten. Doch deutsche Juden wollten auch wieder in Deutschland leben. "Die gepackten Koffer wurden über die Jahre zu schwer und wieder ausgepackt", sagt Kramer. Damit einherging die Ausgestaltung einer Infrastruktur. Heute stehe der Zentralrat als Spitzenorganisation für "eine lebhafte und mit Potenzial und Perspektive für die Zukunft ausgestattete Gemeinschaft". Der Generalsekretär spricht von einer "Erfolgsgeschichte". Seit 1999 ist der Rat wieder in Berlin ansässig, symbolträchtig im Leo-Baeck-Haus, in dem noch bis 1942 die "Hochschule für die Wissenschaft des Judentums" tätig war.

Als aktuelle Themen des Zentralrats nennt Kramer Fragen der jüdischen Identität und Erziehung ebenso wie die Wahrnehmung gesellschaftspolitischer Verantwortung. Da verstehe er sich "nicht nur als Anwalt von Minderheiteninteressen", sondern wolle die Gesellschaft aktiv mitgestalten. Dabei hat der Rat auch eine integrationspolitische Herausforderung zu bewältigen. Nach der deutschen Wiedervereinigung kamen zigtausende Juden aus der früheren Sowjetunion nach Deutschland, die Zahl der Gemeindemitglieder vervierfachte sich fast. Mancherorts brachen offene Kontroversen aus. Und in einigen Städten leben alte und neue Gemeinden beinahe nebeneinander her.

Kleinteilige Integrationsarbeit in den Gemeinden
Der Zentralrat unterhält bundesweit geschätzte Einrichtungen wie die Rabbinerkonferenz, die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden oder die Hochschule für jüdische Studien in Heidelberg. Wichtiger mag jedoch die oft kleinteilige Integrationsarbeit in den Gemeinden sein.

Sprachkurse, Sozialarbeit, religiöse Bildung. Kramer: "Wir sind dabei, ein neues Judentum in Deutschland zu bauen." Da wüchsen unterschiedliche Kulturen, Interessen und religiöse Identitäten zusammen. Dazu zählten auch Belange der Konvertiten wie Kramer selbst. "Ein nicht immer nur fröhliches, aber spannendes und alternativloses Projekt."

Zeitzeugen der Schoah werden weniger
Ist die jüdische Gemeinschaft in den vergangenen Jahren insgesamt erstarkt, so schwindet zusehends die Zahl der Zeitzeugen der Schoah. Der jetzigen Zentralrats-Präsidentin Charlotte Knobloch (77), einer gebürtigen Münchnerin, die mit falscher Identität die Nazizeit auf einem fränkischen Bauernhof überlebte, soll im November der 59-jährige, in Israel geborene Dieter Graumann folgen.

Kramer ärgert sich, wenn man den Zentralrat - wie bei der Gaza-Kontroverse Anfang Juni - allein als Lobby der Anliegen Israels in der deutschen Öffentlichkeit sieht. Natürlich sei Israels Zukunft für die meisten Juden in Deutschland eine Herzensangelegenheit. Das bedeute aber nicht, "dass wir nur Fürsprecher der Anliegen des Staates sind", meint er. Wo nötig, gebe es auch deutliche Worte der Kritik an der Regierungspolitik Israels, "aber immer ohne einen Zweifel daran zu lassen, dass die Sicherheit Israels für uns nicht verhandelbar oder diskutierbar ist".