Leere Pilgerstätten in Zeiten von Corona

"An einem Ort wie Lourdes steigt die geistliche Temperatur"

Eine Wallfahrt soll Heil und Segen bringen. Doch die Corona-Krise stoppt zurzeit auch diese religiöse Praxis. Dabei ist sie gerade in Zeiten der Not für viele Menschen ein Rettungsanker. Was das pastoral bedeutet, erläutert Pilger-Experte Markus Hofmann.

Erscheinung der Seligen Jungfrau Maria in der Grotte von Lourdes / © GoneWithTheWind (shutterstock)
Erscheinung der Seligen Jungfrau Maria in der Grotte von Lourdes / © GoneWithTheWind ( shutterstock )

DOMRADIO.DE: Herr Generalvikar, bis zu sechs Millionen Pilger zieht es Jahr für Jahr in den Marienwallfahrtsort Lourdes. Doch seit Ausbruch des Corona-Virus ist der "Heilige Bezirk" nahezu verwaist. Als Vorsitzender des Deutschen Lourdes-Vereins Köln mussten Sie bereits einige Wallfahrten absagen, darunter den traditionellen Pfingstzug mit dem Malteser-Krankentransport, gewissermaßen das Herzstück Ihres jährlichen Wallfahrtsangebots. Wie gehen Sie pastoral damit um?

Dr. Markus Hofmann (Generalvikar im Erzbistum Köln und Vorsitzender des Deutschen Lourdes-Vereins): Wir erleben seit Wochen eine starke Einschränkung des öffentlichen religiösen Lebens, auch wenn sich das gerade – Gott sei Dank – Schritt für Schritt wieder lockert. Zum Wesen des Christentums gehört es, Gottesdienst zu feiern. Ebenso ist Beten für Christen zentral. Beides sind unverzichtbare Bestandteile einer Wallfahrt. Doch Pilgerreisen können im Moment nicht stattfinden. Nun kann aber jeder ja auch zuhause beten, was viele praktizieren. Dafür hat das Bistum in den vergangenen Wochen viele Hilfen bereit gestellt und sich darüber hinaus erfolgreich dafür eingesetzt, die Kirchen eigens für das persönliche Gebet offen halten zu können. Vielerorts war das Allerheiligste zur Anbetung ausgesetzt, was dankbar angenommen wurde.

Hinzu kommt, dass man allein oder zu zweit auch eine persönliche Wallfahrt zur Gottesmutter unternehmen kann – gerade im Marienmonat Mai; es gibt ja viele kleinere Wallfahrtsorte, Kirchen und Kapellen. Aus dem Heiligtum in Lourdes werden kontinuierlich Gebete über die Homepage übertragen – übrigens täglich um 9 Uhr auch der Rosenkranz auf Deutsch. Außerdem wird an jedem zweiten Freitag im Monat hier in Köln in St. Maria in der Kupfergasse eine Stiftungsmesse für die Lebenden und Verstorbenen des Deutschen Lourdes-Vereins gefeiert, der normalerweise – in Nicht-Corona-Zeiten – auch eine gemeinschaftliche Begegnung folgt. Also, es gibt viele dieser kleinen Zeichen, die vielleicht ansatzweise für das entschädigen, was gerade fehlt.

DOMRADIO.DE: Und trotzdem wird es für viele eine Enttäuschung sein, dass ihr großes Wallfahrtserlebnis nun ausfällt, zumal sich damit ja auch immer Hoffnungen verknüpfen…

Hofmann: Das ist für alle ein schmerzlicher Verlust und tut weh. Alle Pilger sind bereits darüber informiert und zeigen Verständnis dafür, dass unsere Fahrten im Mai und Juni abgesagt werden mussten. Die weitere Entwicklung müssen wir – gerade auch mit Blick auf unser Nachbarland Frankreich – jetzt abwarten. Anzahlungen wurden bereits rückerstattet; ein Angebot, das viele unserer Pilger aber gar nicht annehmen wollten, weil sie argumentieren, dass sie bei nächster Gelegenheit ohnehin wieder mitfahren möchten. Manche wollten ihren schon geleisteten Beitrag sogar als Spende verstanden wissen. Durch unsere Vereinszeitschrift, die "Lourdes-Rosen", deren Sommerausgabe in diesem Jahr zum 140-jährigen Bestehen des Vereins als Jubiläumsausgabe erscheinen wird, bleiben wir mit unseren rund 6000 Mitgliedern in Kontakt – wie wir überhaupt in einer großen geistlichen Gemeinschaft mit unseren Brüdern und Schwestern in Lourdes verbunden bleiben, auch wenn die persönliche Begegnung absehbar erst einmal ausfallen muss.

DOMRADIO.DE: Ursprünglich wurden viele Wallfahrten einmal ins Leben gerufen, weil sich Menschen von ihrem pilgernden Gebet die Überwindung einer Seuche erhofften. Ausgerechnet wegen einer Pandemie steht aber nun der gesamte Wallfahrtsbetrieb still. Ist das nicht paradox?

Hofmann: Im Laufe der Jahrhunderte ist eine Reihe von Wallfahrten aus Dankbarkeit für die Verschonung vor großem Unglück entstanden. Nun ist eine Wallfahrt in sich aber kein Selbstzweck. Das Gebet dagegen ist im eigentlichen Wortsinn not-wendig, denn es wendet die Not. Viele Menschen fragen sich zurzeit nach dem Sinn dieser Pandemie. Die Corona-Krise schreit geradezu danach, religiös gedeutet zu werden. Weder Verschwörungstheorien helfen hier  weiter noch materialistische Deutungen nach dem Motto: Die Starken werden es halt schaffen. Solche Antworten taugen nicht. Was wäre dann mit unseren Kranken? Manche fragen: Ist das eine Strafe Gottes?

Ganz sicher nicht im Sinne eines unbeherrschten Gotteszornes oder von Rache. Unser Gott, der sich in Jesus Christus gezeigt hat, ist kein rachsüchtiger Gott. Beleg dafür ist, dass auch Unschuldige von Leid und Not betroffen sind. Krankheit ist nicht einfach die Folge von persönlicher Schuld. Sonst hätte es im Alten Testament nicht die Gestalt des Hiob gegeben, der unschuldig ist und dem dennoch viele Heimsuchungen widerfahren. Gott will nicht das Böse. Trotzdem aber existiert es. Das ist die alte Theodizee-Frage, die Papst Johannes Paul II. mit Blick auf das Kreuz so beantwortet hat: Gott ist so groß, dass er sogar Hass und Leid durch ein noch größeres Maß an Liebe in ein Werkzeug zum Guten umwandeln kann.

So können wir die momentane Krise auch als Weckruf Gottes verstehen: Stopp, haltet mal ein und besinnt Euch auf das Wesentliche! Jeder sollte sich jetzt fragen: Was ist für mein Leben wirklich wichtig? Wo wird mein Einsatz für andere gebraucht? Was bedeutet mir das Gebet? Wie kostbar sind mir die Sakramente? Bereite ich mich entsprechend darauf vor? Und dann gibt es vielleicht auch schon bald wieder genug Gründe, aus Dankbarkeit nach Lourdes zu pilgern.

DOMRADIO.DE: Sie kämen aus Lourdes anders zurück, als sie hingefahren seien, sagen die meisten immer wieder nach ihrer Wallfahrt. Welche Erfahrungen machen Lourdes-Pilger?

Hofmann: Die Erlebnisse sind so unterschiedlich wie die Menschen selbst, zumal Lourdes-Pilger aus allen sozialen Schichten und Generationen kommen. Da gibt es die Skeptiker, die nachdenklich werden, wenn sie sehen, wie mit den Kranken, die in Lourdes sprichwörtlich Vorfahrt haben, umgegangen wird. Und da sind die, denen der Dienst an den Kranken Freude macht und die aus Überzeugung sagen: Da bin ich auch beim nächsten Mal wieder mit dabei. Vielen werden auch die Kranken selbst zum Vorbild, wie sie ihr Leiden – manchmal auch ihre seelischen Verwundungen – annehmen. Denn ich kann Leid ja zu einer sinnvollen Wirklichkeit werden lassen, indem ich es mit der Passion Jesu verbinde. Leid kann so zu einer Gabe für andere werden. Schließlich hat die Gottesmutter Maria die jugendliche Bernadette dazu aufgefordert, Buße zu tun für die Sünder.

Dann gibt es die Erfahrung, dass gemeinsames  Beten einfacher ist, als es alleine zu tun. Oder dass die Sakramentsprozession und eucharistische Anbetung ganz selbstverständliche Frömmigkeitsformen sind. Außerdem gibt es viele, die schon oft in Lourdes waren, aber eben auch Neue, für die es das erste Mal ist und die sofort wissen, dass sie wiederkommen wollen. Als Beichtvater erlebe ich zudem, dass viele, die sonst nicht unbedingt mit dem Bußsakrament vertraut sind, nun tief bewegt mit einem Mal Dinge in der Beichte loswerden können, die sie manchmal ihr Leben lang belastet haben.

Und dann gibt es in Lourdes auch noch die Erfahrung der Weltkirche: Jeder, woher auch immer er kommt, hat hier seinen Platz. Ich gehöre dazu – das zu erfahren ist allein schon großartig. Und auch, dass sich alle zum gemeinsamen Gebet vereinigen – trotz der vielen unterschiedlichen Sprachen. Auch meinen Glauben stärkt es, mit allen Sinnen zu erleben, dass wir ein einziger großer Organismus sind; ein Leib, zu dem viele Glieder gehören, die sich gegenseitig bereichern.

DOMRADIO.DE: Gilt das alles auch für Jugendliche? Immerhin bieten Sie in diesem Jahr zum dritten Mal eine Jugendwallfahrt an. Dabei könnte man meinen, eine Wallfahrt ist für junge Menschen eher eine verstaubte Frömmigkeitsform. Was daran spricht sie denn an?

Hofmann: Zunächst einmal erleben unsere Jugendlichen andere Jugendliche, und sie sind total überrascht, dass alle gemeinsam auf einer Pilgerreise so viel Spaß miteinander haben. Gerade aus den angelsächsischen Ländern kommen immer wieder viele junge Leute nach Lourdes. Und dann wird aus solchen Treffen ein riesiges Volksfest, bei dem schnell Kontakte untereinander geknüpft und Pilgerzeichen getauscht werden. Bei einer Jugendwallfahrt machen junge Menschen die Erfahrung, dass sie nicht in einem Elfenbeinturm leben, indem sie zum Beispiel auf behinderte Gleichaltrige treffen. Und sie erfahren, wie froh es macht, sich konkret für Dienste einteilen zu lassen und in der Gemeinschaft zu beten. Dabei sind sie auch für ein Gebet wie den Rosenkranz offen. Dass Lourdes hier bei uns für viele das Image hat, da würden doch nur alte Frauen hinfahren, ist bedauerlich und schlichtweg falsch.

DOMRADIO.DE: Als Priester sind Sie marianisch geprägt. Das Jubiläumsjahr des Lourdes-Vereins 2020 steht unter dem Motto" Ich bin die Unbefleckte Empfängnis". Können Sie das theologisch näher erläutern?

Hofmann: 1858 erscheint der 14-jährigen Bernadette Soubirous an der Grotte von Massabielle mehrmals die Gottesmutter in Gestalt einer "wunderschönen weißen Dame", wie das Mädchen erzählt. Als der Dorfpfarrer Bernadette auffordert, die Erscheinung nach ihrem Namen zu fragen, überbringt Bernadette als Antwort der Dame den Satz "Ich bin die Unbefleckte Empfängnis"; eine Glaubenswahrheit, die Papst Pius IX. wenige Jahre zuvor als Dogma verkündet hatte. Da Bernadette als ungebildete Tochter eines verarmten Müllers diesen Begriff kaum gekannt haben kann, war man schnell von der Authentizität ihrer Erscheinungen überzeugt.

Inhaltlich besagt dieser Satz, dass Maria vom ersten Augenblick ihrer Existenz von jeder Sünde bewahrt geblieben ist. Das heißt, in dieser ungebrochenen Beziehung zu Gott war Maria wie die ersten Menschen. Sie hat schon im Vorhinein von der Erlösung, der Befreiung aus der Macht des Bösen, profitiert, die Jesus später erwirkt hat. Was bedeutet das für uns? Hoffnung! An einem Beispiel lässt sich das vielleicht verdeutlichen: Die originalen Baupläne unseres Domes aus dem 13. Jahrhundert galten lange als verschollen. Ohne sie gab es keine Aussicht, die Ruine so zu vollenden wie ursprünglich gedacht. Doch zu Beginn des 19. Jahrhunderts findet man die beiden Teile des Originalplans von der Westfassade wieder. Jetzt kann das gotische Bauwerk vollendet werden. Übertragen auf uns heißt das: In Maria zeigt uns Gott, dass der ursprüngliche Plan des Menschen nicht verloren ist. In Maria hat der göttliche Künstler diesen Plan tatsächlich realisiert. In Maria hat die neue Menschheit real begonnen. Das Jubiläumsmotto spricht daher die Hoffnung aus, dass auch wir erlöst werden können, dass auch ich zu dem Menschen werden kann, wie Gott mich ursprünglich gedacht hat.

DOMRADIO.DE: Was persönlich bedeutet Ihnen eine Wallfahrt nach Lourdes?

Hofmann: Für mich ist das wie nach Hause kommen. Zum ersten Mal war ich 1977 in Lourdes. Von daher sind mir Ort und Atmosphäre über die Jahre sehr vertraut geworden. Ich bin gerne dort. Denn wenn man in der Nähe der himmlischen Mutter ist, ist das gleichzeitig wie zuhause zu sein. Maria führt zu Christus hin und bringt uns Christus näher. Das ist ihre wesentliche Aufgabe, und das tut sie gerade in Lourdes sehr erfolgreich, weil dort die Eucharistie im Zentrum steht.

Und noch etwas: Lourdes ist ein Gnadenort, der Menschen Schritte ermöglicht, die sie sonst nicht machen würden oder zu denen ihnen vielleicht der Mut fehlt. Auch Beten fällt vielen an der Grotte, wo sich die geistliche Atmosphäre spürbar verdichtet, leichter. Das geht auch mir so. Und ich erfahre in Lourdes noch einmal intensiver in der Eucharistie, in der Beichte und bei der Krankensalbung, wie schön es ist, Priester zu sein. Denn dort kommt es zu Begegnungen mit Menschen, die in dieser Intensität woanders nicht so leicht möglich sind. Ich kann mir dort mehr Zeit nehmen für die Feier der Sakramente und für seelsorgliche Gespräche. An einem Ort wie Lourdes steigt einfach die geistliche Temperatur.

Das Interview führte Beatrice Tomasetti.


Generalvikar Msgr. Dr. Markus Hofmann / © Tomasetti (DR)
Generalvikar Msgr. Dr. Markus Hofmann / © Tomasetti ( DR )

Lourdes ohne Pilger. (DLV Köln)

Die Grotte mit der "wunderschönen weißen Dame", die dem Mädchen Bernadette 1858 erschienen ist. (DLV Köln)
Die Grotte mit der "wunderschönen weißen Dame", die dem Mädchen Bernadette 1858 erschienen ist. / ( DLV Köln )

Der Vorsitzende des Deutschen Lourdes-Vereins Köln, Generalvikar Dr. Markus Hofmann, im Gespräch mit Maltesern. / © Gerhard Felder (privat)
Der Vorsitzende des Deutschen Lourdes-Vereins Köln, Generalvikar Dr. Markus Hofmann, im Gespräch mit Maltesern. / © Gerhard Felder ( privat )

Pfarrer Wilhelm Darscheid und Msgr. Dr. Markus Hofmann bei der abendlichen Lichterprozession. (DLV Köln)
Pfarrer Wilhelm Darscheid und Msgr. Dr. Markus Hofmann bei der abendlichen Lichterprozession. / ( DLV Köln )

Wallfahrtsleiter Dr. Markus Hofmann mit einer Pilgergruppe in Lourdes.  (DLV Köln)
Wallfahrtsleiter Dr. Markus Hofmann mit einer Pilgergruppe in Lourdes. / ( DLV Köln )
Quelle:
DR