Lösungssuche für Flüchtlingsdramen auf dem Mittelmeer

"Ertrinken kann nicht die Alternative sein"

Der Tonfall in der Diskussion über die Rettung von Flüchtlingen auf dem Mittelmeer wird immer schärfer. Helfen fordern die einen. Nicht helfen andere, weil das die Schlepper unterstütze. Darf dies im christlichen Sinn infrage gestellt werden?

Flüchtlinge nach der Rettung auf dem Mittelmeer / © Jesus Merida (dpa)
Flüchtlinge nach der Rettung auf dem Mittelmeer / © Jesus Merida ( dpa )

DOMRADIO.DE: Die Debatte um Flucht und Migration wird heftig und emotional geführt. Das hat auch das Wochenmagazin "Die Zeit" zu spüren bekommen. Unter dem Titel "Oder soll man es besser lassen?" hatte die Journalistin Mariam Lau geschrieben, warum es aus ihrer Sicht besser sei, wenn freiwillige Helfer auf die Rettung von Flüchtlingen im Mittelmeer verzichteten. Darf man in Deutschland die Frage stellen, ob private Helfer Flüchtlinge im Mittelmeer retten dürfen?

Thomas Witt (Domkapitular und Flüchtlingsbeauftragter des Erzbistums Paderborn): Ich glaube, fragen darf man in unserem Staat erst mal alles. Und das ist gut so. Ob das allerdings sehr zielführend ist, wage ich zu bezweifeln. Ich glaube schon, dass wenn Menschen in akuter Lebensgefahr sind, ist allen klar, was zu tun ist. Die Menschen, die sich berufen fühlen, dahin zu fahren und unter großem persönlichen Einsatz Leben zu retten, sind meiner Ansicht nach nur hoch zu achten. Im Grunde sind auch alle, die da in der Nähe sind, verpflichtet Menschenleben zu retten. Die Alternative ist ja nur, die Menschen ertrinken zu lassen. Das können wir nicht wirklich wollen.

DOMRADIO.DE: Die ZEIT ist auch wieder zurückgerudert. Der stellvertretende Chefredakteur hat sich für die Überschrift entschuldigt. Aber mal generell: Ist es in Deutschland nicht möglich, eine solche Frage zu stellen beziehungsweise solche Thesen aufzustellen?

Witt: Offenbar ist es schwierig, was in vielen Bereichen der Fall ist. Sofort werden grundlegende Verdächtigungen geäußert. Ich finde, man muss über alles diskutieren können. Aber man muss eben auch versuchen, die wirklich umfängliche Sachlage zu sehen. 

Ich bin kürzlich auf einer Veranstaltung jemandem begegnet, der auf einem solchen Schiff mitgefahren ist und mitgeholfen hat. Der hat mir ganz neue Einsichten vermittelt. Er sagte zum Beispiel, viele der Geretteten seien ganz erstaunt, wie weit die Reise dann noch bis Italien oder Malta sei. Die Menschen wüssten gar nicht, wie weit das ist. Die wüssten auch teilweise gar nicht, wie groß das Risiko ist. Die setzten sich da rein und denken, dass sie jetzt in zwei, drei Stunden da seien.

Bei diesem Stand und angesichts der Verzweiflung, in der die Menschen leben, glaube ich nicht, dass hier ein Abschreckungseffekt erzielt werden kann - auch wenn dieser gewünscht ist. Die Zahl wird sich nicht wesentlich verringern. Wenn der Druck aus Afrika aufgrund der allgemein politischen Entwicklung weiter steigt, wird das vermutlich keinen abschrecken.

DOMRADIO.DE: Das ist der Zwiespalt. Wenn wir über die einzelnen Menschen sprechen, wenn wir über solche Erlebnisse sprechen, wie Sie es gerade geschildert haben, dann siegt natürlich immer der Humanismus. Aber wenn wir über das Große und Ganze sprechen, wenn wir sehen, wie betoniert die Einstellungen in Europa im Moment sind: Ist dann eine große Gesamtlösung zu erreichen?

Witt: Nein, die ist nicht so leicht zu erreichen. Ich habe auch kein Patentrezept dafür, wie es geht. Nur glaube ich, dass wir nicht über Lösungen diskutieren müssen, die das Ertrinken von Hunderttausenden Menschen in Kauf nehmen. Das kann nicht die Lösung sein, die wir suchen.

DOMRADIO.DE: Ich möchte aber noch mal auf diese Spirale der Gewalt in der Debatte zu sprechen kommen. Gibt es da eine Möglichkeit, diese Debatte wieder ein bisschen runter zu kochen und sachlicher und pragmatischer zu führen?

Witt: Ich hoffe, dass es die gibt. Ich weiß aber auch nicht wie genau. Ich glaube, es wird nur so gehen, dass man wirklich versucht, immer wieder sachliche Argumente in die Diskussion einzuführen. Außerdem muss jeder selbst seinen Beitrag leisten, dass das Ganze ein bisschen runter gekocht wird.

Aber da es leider zu viele gesellschaftliche Gruppen, Parteien und andere Interessierte gibt, die davon leben, dass die Aufregung hoch ist, ist das natürlich schwierig. Aber es führt kein Weg daran vorbei. Man muss in der Debatte bleiben und immer wieder sachliche Argumente bringen. Es kann nicht sachlich sein, wenn man das Schicksal der Menschen einfach ausklammert.

DOMRADIO.DE: Finden Sie eigentlich, dass zu viel über Flüchtlinge und Flüchtlingspolitik gesprochen wird, oder finden Sie das angemessen im Moment?

Witt: Ich glaube, es ist tendenziell eher etwas zu viel, weil andere Probleme dadurch völlig in den Hintergrund geraten. Vor allen Dingen wird damit auch der Eindruck vermittelt, als ob wir zurzeit auf einem Pulverfass säßen und von dieser Problematik erdrückt würden. Das stimmt ja gar nicht. Die Zahlen sind ja sehr zurückgegangen und außerdem wird ein Staat wie unserer im weltweiten Vergleich doch leicht fertig.

Es ist ja nicht so, als ob wir hier überall nur vor Problemen ständen. Ich will die nicht kleinreden. Es gibt Probleme und vielleicht haben 2015 viele Bereiche, viele Beteiligte dazu geneigt, die Probleme runterzureden. Das war sicher auch ein Fehler. Wir müssen uns diesen Fehlern aber ehrlich stellen. Es ist nicht so, als ob wir kurz vor dem Kollaps stehen wie manche das sagen - und die Hitze der Debatte legt das nahe. Das stimmt meiner Ansicht nach nicht. 

Das Interview führte Andreas Lange.


Thomas Witt, Domkapitular und Flüchtlingsbeauftragter des Erzbistums Paderborn (EPB)
Thomas Witt, Domkapitular und Flüchtlingsbeauftragter des Erzbistums Paderborn / ( EPB )
Quelle:
DR