Verfassungsgericht: Kein Ausschluss von Behinderten bei Wahlen

"Zufall darf keine Ungleichbehandlung rechtfertigen"

Es steht im Koalitionsvertrag: Auch Menschen mit angeordneter Betreuung sollen mitwählen dürfen. Jetzt mahnt auch das Bundesverfassungsgericht, das Wahlrecht entsprechend zu ändern.

Autor/in:
Joachim Heinz und Birgit Wilke
Stimmzettel für Bundestagswahl / © Karl-Josef Hildenbrand (dpa)
Stimmzettel für Bundestagswahl / © Karl-Josef Hildenbrand ( dpa )

Eigentlich ist die Sache klar. Den Bundestag dürfen alle deutschen Staatsbürger wählen, die am Wahltag 18 Jahre oder älter sind, vereinfacht gesagt. Doch der Teufel steckt bekanntermaßen im Detail. Und der steht insbesondere in Paragraf 13 des Bundeswahlgesetzes.

Demnach ist vom Wahlrecht ausgeschlossen, "wer infolge Richterspruchs das Wahlrecht nicht besitzt" sowie Menschen mit einer geistigen Behinderung, die in einer "dauerhaften Vollbetreuung" leben, und "schuldunfähige Straftäter", die in psychiatrischen Krankenhäusern untergebracht sind.

Acht Personen hatten geklagt

Zu diesen beiden letztgenannten Gruppen gehören insgesamt schätzungsweise 85.000 Menschen. Ihnen bleibt der Urnengang bislang verwehrt. Das Bundesverfassungsgericht hat das nun in seiner Entscheidung für verfassungswidrig erklärt.

Wer auf eine von einem Gericht bestellte Betreuung angewiesen sei, könne nicht pauschal von Wahlen ausgeschlossen werden, heißt es in der am Donnerstag in Karlsruhe veröffentlichten Entscheidung des Zweiten Senats. Acht Personen hatten eine Verfassungsbeschwerde eingelegt, sieben von ihnen erhielten Recht.

Teilnahme am Kommunikationsprozess entscheidend

Die Richter betonen, ein Wahlausschluss könne gerechtfertigt sein, wenn Menschen nicht hinreichend am "Kommunikationsprozess zwischen Volk und Staatsorganen" teilnehmen könnten.

Kritisiert wird aber, dass der Wahlrechtsentzug derzeit davon abhängt, ob ein Gericht einen Betreuer bestellt hat. Denn wenn eine Person eine Betreuungs- oder Vorsorgevollmacht verfasst hat und im Familienkreis versorgt wird, darf sie wählen.

Die gesetzlichen Maßstäbe müssen "realitätsgerecht" sein

Dieser "von Zufälligkeiten abhängige Umstand" könne aber keine "wahlrechtliche Ungleichbehandlung rechtfertigen", so die Richter. Der Gesetzgeber müsse nun "realitätsgerecht" Maßstäbe formulieren. Härten und Ungerechtigkeiten dürften nur eine verhältnismäßig kleine Zahl von Menschen betreffen.

Schon lange hatte sich Verbände und andere Einrichtungen für eine Änderung eingesetzt. Der Leiter der "Monitoring-Stelle der UN-Behindertenrechtskonvention" in Berlin, Valentin Aichele, hatte mehrfach erklärt, dass die von Deutschland unterzeichnete und 2009 hierzulande in Kraft getretene UN-Behindertenrechtskonvention einen solchen pauschalen Ausschluss verbietet.

Schon der Koalitionsvertrag verlangt eine Wahlrechtsänderung

Auch die Politik handelte: Union und SPD verständigten sich 2018 in ihrem Koalitionsvertrag darauf, das Wahlrecht entsprechend zu ändern. Passiert ist das bislang noch nicht, so dass auch der Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, Jürgen Dusel, in den vergangenen Monaten immer wieder eine Umsetzung angemahnt hatte.

Am Donnerstag war er einer der ersten, der die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts begrüßte. Die Koalitionsfraktionen müssten den Koalitionsvertrag nun "umgehend und ohne 'Wenn und Aber' umsetzen".

Betroffene benötigen Unterstützung beim Wählen

Schon jetzt ist klar, dass viele der bislang von der Wahl Ausgeschlossenen bei einer Umsetzung auf Hilfen angewiesen wären – angefangen von Informationen in Leichter Sprache bis hin zu einer Betreuung bei der Stimmabgabe. Daran hapert es schon jetzt, wie Irmgard Reichstein von der Stiftung taubblind leben erläutert. Taubblinde trifft der Wahlausschluss zwar nicht. "Aber eine Assistenz müssen die meisten Betroffenen selbst finanzieren."


Bundesverfassungsgericht (dpa)
Bundesverfassungsgericht / ( dpa )
Quelle:
KNA