Corona-Pandemie: Erfahrungen aus Schweden

"Der Traum ist gestorben"

Schweden geht einen Sonderweg durch die Corona-Pandemie, mit deutlich weniger Beschränkungen. Wie geht es einem dort lebenden Deutschen in dieser Situation? Das erzählt Jesuitenpater Dr. Philipp Geister aus Uppsala.

Malmö: Menschen genießen das warme Abendwetter hinter einem Schild, das sie darauf hinweist, Abstand zu halten.  / © Johan Nilsson (dpa)
Malmö: Menschen genießen das warme Abendwetter hinter einem Schild, das sie darauf hinweist, Abstand zu halten. / © Johan Nilsson ( dpa )

DOMRADIO.DE: Schweden hat deutlich weniger Beschränkungen, aber das Land zählt rund 4.000 Covid-19-Tote. Gemessen an der Bevölkerungszahl sind das wesentlich mehr als in Deutschland. Pater Geister, Schulen waren nie geschlossen, ebenso wenig wie Restaurants oder Ausflugsziele. Und auch die Messen durften durchgängig bei Ihnen stattfinden?

Dr. Philip Geister (Jesuitenpater in Uppsala): Ja, so war das. Man darf sich das allerdings nicht so vorstellen, dass dann auch die Restaurants voll waren und sich die Leute drängten, sondern die Leute waren sehr diszipliniert, und die Regierung hat auf diese Disziplin und auf das Verantwortungsgefühl der Leute sehr stark gesetzt. Man wollte eben nicht einfach nur von oben Dinge verbieten.

Ich glaube, das hängt sehr stark mit einem schwedischen Gesellschaftsmodell zusammen, das mehr auf Verantwortung als auf Druck setzt. Die Kirchen waren eigentlich auch alle am Anfang geschlossen. Die Sonntagsgottesdienste sind jetzt wieder in Gang gekommen, aber im März und April war eigentlich alles zu. 

DOMRADIO.DE: Die Schlagbäume sollen sich jetzt bald wieder öffnen. Europa wird wieder grenzenlos, zumindest einigermaßen, denn Schweden bleibt außen vor. Das Infektionsgeschehen sei zu groß, sagen die Nachbarländer. Wie wird das im Land selbst wahrgenommen? Fühlt man sich als Mobbing-Opfer? 

Geister: Ja, auf jeden Fall. Und es ist schon auch ein bisschen peinlich: Gerade gestern hatte eine große Tageszeitung den Vergleich von einem Alkoholiker, der versucht, am Freitagabend in eine Bar reinzukommen und überall abgewiesen wird, weil er schon betrunken ist. Das ist so ein bisschen das Bild, das die Schweden haben - jetzt, zu Beginn des Sommers, wo sie merken, dass sie eben keiner haben will. Es ist schon ärgerlich und störend für das Selbstbewusstsein. 

DOMRADIO.DE: Sie haben es eben gesagt: Schweden hat von Anfang an auf die Eigenverantwortung gesetzt, während die restliche Welt in einem staatlichen, angeordneten Lock-Down war. Hat das letztenendes in Schweden mit der Eigenverantwortung einfach nicht funktioniert? 

Geister: Doch, ich glaube schon. Die Leute sind schon sehr diszipliniert, und sie glauben auch daran, dass sie selbst die richtigen Entscheidungen treffen können. Ich glaube nur, die Informationen von den staatlichen Behörden waren oft nicht deutlich genug. Und ich denke, es reicht für eine solche Verbreitung eines Virus auch, wenn nur wenige Leute sich nicht an die Regeln halten oder nicht an die Regeln halten können. Es war ja auch ein Mangel an Schutzmaterial und vielen anderen Dingen, sodass das Virus sich dermaßen verbreiten konnte.

DOMRADIO.DE: Der Schwede legt sein Geld traditionell in Aktien an. Deshalb stehen Wirtschaftsnachrichten an vorderster Stelle. Überspitzt gefragt: Ist den Schweden das eigene Portemonnaie wichtiger als die Gefährdeten in der Gesellschaft zu schützen? 

Geister: Ich denke, dass es viele Leute so erlebt haben, gerade am Anfang. Das Problem, das jetzt sehr stark diskutiert wird, ist, ob dieser Versuch, die eigene Wirtschaft einigermaßen zu schützen, nach hinten losgegangen ist. Denn man sieht jetzt, dass Leute mit Schweden nicht zusammenarbeiten wollen, weil es eben diese problematische Rolle eingenommen hat. 

DOMRADIO.DE: Schweden setzt auf Herdenimmunität, die Starken überleben. Das erinnert mich ein bisschen an ein düsteres Kapitel in der deutschen Geschichte. 

Geister: Mir geht es genauso. Man hat das natürlich immer wieder verneint. Aber de facto war das natürlich immer irgendwie im Blickwinkel. Jetzt ist diese Illusion gestorben, weil einfach die Zahlen der bereits Angesteckten für eine Herdenimmunität viel zu klein sind. Der Traum ist gestorben. Aber es hat sehr unangenehme Gefühle bei mir geweckt, gerade vor dem deutschen Hintergrund.

Das Interview führte Tobias Fricke.


Jesuitenpater Philip Geister (privat)
Jesuitenpater Philip Geister / ( privat )
Quelle:
DR