Theologe geht demografischer Entwicklung auf den Grund

Was fehlt, wenn die Christen fehlen?

In Deutschland wird der Anteil der Christen immer geringer. Ist das schlimm? Was geht der Gesellschaft damit verloren, die über Jahrhunderte durch Christen geprägt war? Der Theologe Matthias Sellmann ist dieser Frage nachgegangen.

Mutter mit Kind und einem Rosenkranz / © Daniel Jedzura (shutterstock)
Mutter mit Kind und einem Rosenkranz / © Daniel Jedzura ( shutterstock )

DOMRADIO.DE: Angenommen es gäbe keine Christen, dann gäbe es auch den Kölner Dom nicht. Aber das ist nicht ganz das, worauf Sie in Ihrem neuen Buch hinaus wollen!?

Prof. Matthias Sellmann (Professor für Pastoraltheologie in Bochum): Dass der Dom aus Köln weg wäre, das wollen wir natürlich alle nicht. Nein, ich beziehe mich darauf, dass wir ja alle wissen und die Zahlen gehört haben, dass so etwa ab dem Jahr 2030 weniger als 50 Prozent der in Deutschland Lebenden weder katholisch noch evangelisch sein werden. Damit tritt schon so etwas wie eine kulturgeschichtliche Wende, eine Zäsur ein, weil unser Land hier und unsere Gegend seit vielen Jahrhunderten immer sehr christlich geprägt war.

Ich habe mir gedacht, die Frage lohnt sich sich, warum das eigentlich bedauerlich sein könnte. Und zwar jenseits der Sachen, die so auf der Hand liegen. Dass dann natürlich weniger Leute Eucharistie feiern oder in den Dom gehen, das ist klar. Aber gibt es noch etwas tiefer Liegendes, was Kulturelles? Ein Lebenswissen, ein Klugheitswissen, das dann fehlen würde? Das hat mich interessiert.

DOMRADIO.DE: Und zu welcher Antwort sind sie gekommen? Was würde uns fehlen?

Sellmann: Es wird Sie nicht wundern: als Christ, der ich auch wirklich gerne bin, bin ich tatsächlich der Meinung, dass wirklich etwas fehlt. Nämlich eine bestimmte Variante von Lebensklugheit. Die religiösen Menschen sagen, ja, man kann geistlich leben. Man kann aus Ressourcen leben, aus Weisheiten, aus Ritualen, aus kulturellen Intelligenzen kann man leben. Und das tun die Christen auch.

Ich habe in diesem Buch versucht, einfach mal die zentralen Kompetenzen herauszufinden, die in dieser typisch christlichen, geistlichen Lebensklugheit stecken. Da muss ich kurz vorwegschicken, dass das Wort "geistlich", das Adjektiv "geistlich" Leben einen schlechten Ruf hat. Das klingt ganz schnell so tugendhaft, fromm, blutleer, akademisch und auch sehr frömmelnd vielleicht. Ich wollte erst einmal freilegen, dass "geistlich" eine sehr robuste, eine sehr kräftige und eine sehr intelligente Form des Lebensumgangs ist.

Dann habe ich einfach mal geguckt, was sind denn so die drei Grundkompetenzen, von denen ich sagen würde, die haben die Christen sehr gut entdeckt.

DOMRADIO.DE: Welche Kompetenzen sind das?

Sellmann: Da haben wir als Erstes mal, dass die Christen in der Lage sind oder durch ihren Glauben sehr schnell in die Lage versetzt werden, sich einfach der Lebensherausforderung zu stellen, der sie gegenüberstehen. Durch die Schöpfung kommt das. Christen sagen ja, die Welt ist geschaffen und deswegen ist sie auch von einem guten Gott geschaffen. Deswegen stelle ich mich einfach. Ich stelle mich dem, was mir entgegenkommt. Ich renne nicht weg.

Die erste Kompetenz nenne ich die Physiskompetenz. Das bedeutet, ich muss immer weniger wegrennen. Das Christsein kann mich dazu bringen, immer weniger vor den unangenehmen Dingen, vor meinen eigenen Abgründen, vor nervigen Kollegen, aber auch vor schwierigen Lebensverläufen, vor Scheitern wegrennen zu müssen. Ich muss immer weniger wegrennen. Das scheint mir eine ganz wichtige und auch attraktive Form zu sein.

Das Zweite ist dann, Christen lernen durch Jesus von Nazareth, ihrem großen Gründer und Vorbild, dass sie aus sich herausgehen können. Also das Zweite wäre, aus sich herausgehen können, den Nächsten lieben können. Das heißt wirklich, dem anderen Raum in mir schaffen können, aus meiner Komfortzone rauszugehen und mich in das Glück des anderen hinein zu engagieren. Das ist eine Sache, die man, meiner Meinung nach, doch deutlich bei Jesus von Nazareth lernen kann.

Das Dritte ist dann "Dynamis". Das heißt, die Christen erzählen, dass, wenn sie "Physis" und "Kenosys", dieses aus sich Herausgehen leben, dass dann was passiert. Nämlich, dass sich eine Kraft von außen einstellt, die man vorher nicht auf dem Zettel hatte. Die Christen, wie auch überhaupt religiöse Leute erzählen, dass es so etwas wie eine Kraft gibt, die dich dann hoch nimmt und die dir Möglichkeiten gibt, von denen du gar nicht dachtest, dass du sie hast. Das würde ich mit dem Heiligen Geist gerne in Verbindung bringen, sodass wir Vater, Sohn und Geist im Glaubensbekenntnis der Christen haben.

Aber jetzt haben wir das mal nicht dogmatisch hergeleitet oder liturgiewissenschaftlich, sondern vom Leben her. Das hat mich interessiert.

DOMRADIO.DE: Die Uni Bochum hatte ihre These auf Twitter verkürzt dargestellt und gesagt: Immer weniger Christen bedeutet immer weniger Lebensklugheit. Warum ist denn das falsch?

Sellmann: Weil sich das so anhört, als hätten nur die Christen Lebensklugheit und wenn die Christen weg sind, gibt es weniger Lebensklugheit. Das ist wirklich exakt das Gegenteil von dem, was ich ausdrücken will mit diesem Buch, weil mich interessiert, wie Menschen ihr Leben meistern, und zwar ob sie das religiös oder nicht religiös machen. Das ist gar nicht meine erste Frage. Mich interessiert: Wie meistert man sein Leben? Wie kommt man anständig und fair und auch kreativ durch sein Leben? Ehrlich.

Und da habe ich bei den Christen starke Leute erlebt, die das können. Ich habe es auch bei anderen erlebt, zum Beispiel bei politisch engagierten Leuten oder bei Leuten, die gar nicht vorhaben, in eine religiöse Bindung einzusteigen. Also, nicht die nicht Lebensklugheit fehlt, sondern eine bestimmte Variante von Lebensklugheit. Die würde fehlen. Und für die werbe ich natürlich auch bei denen, die gar nicht an Gott glauben.

DOMRADIO.DE: Und Sie haben dem Buch ja auch ein kleines "Giveaway" beigelegt. Da geht es dann nicht nur um die geschriebene Sprache, oder?

Sellmann: Ja, da bin ich ehrlich gesagt richtig stolz drauf. Und das kann ich auch sein, weil dahinter ein großes Team steht, auf das ich auch stolz bin. Es ist wirklich ein kleines, leicht und schnell lesbares Büchlein, darin liegt eine Karte, um damit Theologie auf anderen Wegen zugänglich zu machen. Darauf sind QR-Codes.

Man geht mit dem Handy über die Karte und dann haben wir eine ganze Fernsehshow gedreht zum Inhalt des Buches. Wir haben einen ganzen Konzertfilm aufgenommen. Wir haben Comedy zu dem Buch gemacht, einen Bilderzyklus kann man da bekommen und wir haben die Karte mit Duftlack besprüht, sodass wenn Sie an der Karte reiben, sich ein wunderbarer Duft entfaltet. Der Duft ist einer der vier Kompetenzen des Christseins. Wir haben aus diesen Kompetenzen Raumdüfte kreiert, zusammen mit einem sehr bekannten Parfümeur. Man kann sozusagen auch Theologie riechen.

So ist unsere Idee: Theologie zum Lachen, Theologie zum Anschauen, Theologie zum Riechen, Theologie zum Hören und natürlich auch Theologie zum Lesen und Nachdenken. Aber das ist natürlich auch mein Wunsch als Theologe, dass wir einfach populärer, schneller und auch ein bisschen fröhlicher rüberkommen, mit zum Teil schweren Gedanken. Dass die dann doch auch durch andere Wege erschließbar sind. Das ist mir ein großes Anliegen.

Das Interview führte Heike Sicconi.


Prof. Dr. Matthias Sellmann / © privat
Prof. Dr. Matthias Sellmann / © privat
Quelle:
DR
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