Jesuitenpater Mertes über geistlichen Missbrauch in der Kirche

"Kirche als Ganzes wird in Frage gestellt"

Am Gedenktag für die Opfer sexuellen Missbrauchs spricht Jesuitenpater Klaus Mertes über geistlichen Missbrauch und dessen schreckliche Folgen für die Betroffenen – und auch die Institution Kirche.

Symbolbild Missbrauch in der katholischen Kirche / © Harald Oppitz (KNA)
Symbolbild Missbrauch in der katholischen Kirche / © Harald Oppitz ( KNA )

Hinweis der Redaktion: Dies ist der zweite Teil des Interviews. Lesen Sie hier den ersten Teil. Das Interview ist Teil der Sendung Menschen, die Sie hier nachhören können.

DOMRADIO.DE: Im Zuge der Veröffentlichung der Missbrauchsstudie der deutschen Bischofskonferenz war auch von einem "geistlichen Missbrauch" die Rede. Was muss man sich darunter vorstellen?

Mertes: Unter diesem Begriff wird versucht etwas zu fassen, das Menschen und Gruppen betrifft, in denen Menschen gegenüber anderen Menschen beanspruchen, ihnen sagen zu können, was der Wille Gottes für sie sei. Also ein im strengen Sinne des Wortes geistliches und religiöses Thema, wo Religion und religiöse Sprache missbraucht wird, um geistlich Macht über Menschen zu gewinnen.

DOMRADIO.DE: Das ist nochmal eine neue Ebene in dem großen Thema "Missbrauch in der katholischen Kirche", oder?

Mertes: Ja. Das hat auch etwas mit der besonderen Fallhöhe zu tun. Ich habe viele Opfer von sexuellem Missbrauch in der Kirche kennengelernt, die mir gesagt haben, der sexuelle Missbrauch sei nicht das Schlimmste, obwohl er natürlich schlimm ist, sondern dahinter stehe noch einmal dieser geistliche Missbrauch. Nämlich letztlich der Missbrauch des Namens Jesu oder des Namens Gottes im Sinne des ersten Gebotes: "Du sollst den Namen Gottes oder den Namen Jesu nicht missbrauchen". Dieser Name Jesu ist missbraucht worden, um Nähe zu gewinnen. Denn viele der Betroffenen sind ja tief gläubige Menschen gewesen, die sich auf der Suche nach Gott, nach einer Erfahrung nach Nähe zu Gott begeben haben und in dem Zusammenhang missbraucht worden sind.

Dann gibt es viele, die mir sagen: Wir sind zwar nicht sexuell missbraucht worden, aber das, was uns in geistlicher Begleitung oder auch in bestimmten autoritären religiösen Gruppen angetan worden ist, ist für uns eine genauso vernichtende Erfahrung wie der sexuelle Missbrauch.

Nicht jeder Missbrauch ist daher sexueller Missbrauch. Es gibt diesen geistlichen Missbrauch ohne sexuellen Missbrauch, der religiös gesehen und für religiös suchende Menschen eben genauso vernichtend ist, wie der sexuelle Missbrauch durch Geistliche. Selbst dann, wenn der Geistliche für sich letztlich nur die sexuelle Lust sucht und nicht noch einmal die Gottesposition für sich explizit beansprucht, wie das in autoritären Gruppen der Fall sein kann.

DOMRADIO.DE: Der geistliche Missbrauch ist also immer mit dabei, weil es eben ein Geistlicher ist, der seine sexuelle Lust befriedigt?

Mertes: Ja, das ist richtig. Das ist das eine. Aber es gibt auch noch andere Systeme, die autoritär aufgebaut sind.

Ich nehme einen Bereich aus dem Außerkirchlichen. Ich bin dem Phänomen des geistlichen Missbrauchs zum ersten Mal bei dem Freund eines Schulfreunds begegnet, der nach dem Abitur in die Moon-Sekte hineingeraten ist und dort finanziell ausgebeutet wurde. Er wurde nicht sexuell ausgebeutet, war aber trotzdem nach ein paar Wochen schon bereit, sich letztlich diesem sektiererischen System zu beugen.

Da ist mir zum ersten Mal deutlich geworden, wie schrecklich religiöse Macht Menschen einer Gehirnwäsche unterziehen kann und sie vollkommen und total entmündigen kann. Das läuft dann über die Manipulation bis hin zur offenen Gewalt, die man über sich ergehen lässt. Es endet dann oft auch im Suizid. Es ist eine Wunde, die, wenn man den Weg heraus geschafft hat, bis zum Schluss des Lebens bleibt, ähnlich wie bei der Wunde durch sexuellen Missbrauch.

Nicht jeder sexuelle Missbrauch durch einen Priester hat noch einmal diesen sektiererischen Kontext. Aber es gibt ihn erschreckenderweise eben auch in der Christenheit, in der evangelischen Kirche – bei Evangelikalen – ebenso wie in der katholischen Kirche. Es haben sich bei mir und auch bei anderen im Laufe der letzten Jahre sehr, sehr viele Personen gemeldet, die solche Erfahrungen gemacht haben und die sich in ganz schwierigen Loslösungsprozessen, in Ängsten oder auch in tiefen Schuldgefühlen befinden. Sie sind als Verräter stigmatisiert oder stigmatisieren sich selbst als Verräter, weil sie gemerkt haben, wo sie sind. Aber den Schritt heraus schaffen sie noch nicht oder nur unter der Bedingung, dass sie sich radikal vom Christentum insgesamt ablösen. Das sind ganz große Themen.

DOMRADIO.DE: Ist dieses Thema wirklich im Kern der Kirche angekommen?

Mertes: Ich hoffe, dass es ankommt. Ich denke, das wird noch eine Zeit dauern. Der Begriff selbst ist ja auch noch umstritten. Wir müssen auch noch eine Sprache finden. Das ist ähnlich wie beim sexuellen Missbrauch. Das Allerwichtigste ist, zuerst einmal eine angemessene Sprache zu finden. Da sind wir dabei. Ich habe selbst zu diesem Thema in den letzten zwei, drei Jahren Artikel publiziert und versucht, den Begriff als eine Möglichkeit zu sehen, sich dem Phänomen zu nähern. Ich weiß auch, dass das Thema in der Bischofskonferenz selbst immer mehr zu einem wichtigen Thema wird.

DOMRADIO.DE: Und in der Weltkirche?

Mertes: Das weiß ich nicht. Es ist aber ganz eindeutig, dass es auch in Rom Bewegungen gegeben hat und geben musste, um auf solche Phänomene einzugehen. Ich nenne ein Beispiel: Der berühmteste und berüchtigte Fall von sexuellem Missbrauch durch einen Ordensgründer war der der Legionäre Christi, von Marcial Maciel. Nun kann man ja auch hier den sexuellen Missbrauch nicht einfach von den gesamten geistlichen Systemen isolieren. Da hat dann auch Papst Benedikt XVI. eingegriffen. Zum Beispiel gab es bei den Legionären Christi ein explizites Schweigegebot, man durfte Obere nicht öffentlich kritisieren. Kritik durfte man nur persönlich äußern. Dieses Gelübde hat dann Papst Benedikt für diesen Orden aufgelöst.

Das war eine klassisch autoritäre Struktur, in der das Ganze stattgefunden hat. So eine autoritäre Struktur hat in der Regel - wenn sie in einem Orden stattfindet - natürlich auch immer noch einen religiös-ideologischen Hintergrund, beziehungsweise werden hier Schlüsselbegriffe der kirchlichen Frömmigkeit und auch des Evangeliums wie beispielsweise Gehorsam, Lebenshingabe oder Kreuzesnachfolge instrumentalisiert, um eine Spiritualität zu schaffen, die am Ende autoritäre Beziehungsstrukturen legitimiert. Da herauszukommen, ist eine ganz große Aufgabe. Die stellt dann aber auch die Kirche als Ganzes infrage, weil die Schlüsselbegriffe der Christenheit und der christlichen Theologie durch den Missbrauch kontaminiert worden sind und jetzt auch nicht mehr einfach so in den Mund genommen werden können, ohne um den Missbrauch zu wissen und zu wissen, was dieser Missbrauch bei denen angestellt hat, die in diesem Missbrauchssystem gelebt haben.

Ein Mensch, der arbeitsmäßig, finanziell, psychologisch und am Ende auch sexuell ausgebeutet worden ist, wird das Wort Hingabe, das nach wie vor ein Schlüsselwort für das christliche Selbstverständnis ist, mit anderen Ohren hören, wenn von der Lebenshingabe Christi gesprochen wird. Dann müssen wir in der Kirche wieder neu anfangen, diese Begriffe zu durchdenken. Das ist auch eine Chance, weil es die Möglichkeit schafft, diese ganzen klassischen Begriffe noch einmal neu mit Leben zu füllen, indem man sie von ihrer Anfälligkeit für Missbrauch abgrenzt.

Das Interview führte Angela Krumpen.

Hinweis der Redaktion: Dies ist der zweite Teil des Interviews. Lesen Sie hier den ersten Teil. Das Interview ist Teil der Sendung Menschen, die Sie hier nachhören können.