Altehrwürdige Stiftsbibliothek St. Gallen erhält "Corona-Bibel"

"Einzigartiges Zeitzeugnis der Spiritualität im 21. Jahrhundert"

Menschen aus aller Welt haben die Bibel komplett abgeschrieben und gestaltet. Nun wurde die "Corona-Bibel" von der Stiftsbibliothek St. Gallen aufgenommen. Damit steht sie in der Tradition frühmittelalterlicher Skriptorien.

Autor/in:
Raphael Rauch und Sabine Kleyboldt
Kreuz und Bibel / © Elena Elisseeva (shutterstock)

Es war kurz vor dem Lockdown in der Schweiz am 16. März 2020, als eine Handvoll Kirchenleute in St. Gallen nach einer Möglichkeit suchte, die drohende Vereinzelung zu überwinden. Ihre Idee: Die komplette Bibel neu abschreiben. "Die Bibel ist zwar kein Heilmittel gegen das Coronavirus, wohl aber ein wirksames Mittel, den eigenen Ängsten und Sorgen Sprache zu verleihen", so das Team evangelisch-reformierter und katholischer Seelsorgerinnen und Seelsorger um Pfarrer Uwe Habenicht. Bereits als sich der Lockdown abzeichnete, stellte der reformierte Theologe Projektteam und Website zusammen, Erklärvideos inklusive.

Die "Corona-Bibel"

Heraus kam die sogenannte "Corona-Bibel": Rund 950 Menschen aus aller Welt haben die 1.189 Kapitel des Buchs der Bücher abgeschrieben, in ihrer eigenen Sprache und Handschrift, mit eigenen Illustrationen und Kommentaren. Am Sonntag wurde der ungewöhnliche "Codex Corona" zunächst in einem Gottesdienst in der evangelisch-reformierten Kirche feierlich präsentiert. Die rund 4.000 Seiten seien "ein Zeugnis der Zeit gegen Isolation und Einsamkeit", entstanden zwischen 16. März und 31. Mai 2020. Hunderte Menschen hätten sich verbunden mit den alten biblischen Sehnsuchtsgeschichten nach Heilung und die eigene Sehnsucht hineingeschrieben, hieß es in der ökumenischen Feier: "Schreiben verbindet und Schreiben befreit - vom Druck der Gegenwart."

Anschließend wurde die Corona-Bibel in einer Prozession zur katholischen Kathedrale St. Gallen gebracht, wo sie in die Hände der Stiftsbibliothek übergeben wurde. Damit ist sie Teil jenes berühmten Klosters, in dem Mönche im Mittelalter ihre Abschriften der Bibel und anderer Texte herstellten. Dass die altehrwürdige Bibliothek, die zum Weltkulturerbe zählt, ihre Unterstützung zugesagt habe, darauf ist die katholische Theologin Ann-Katrin Gässlein von der Citypastoral St. Gallen stolz: "Die Corona-Bibel reiht sich in die Tradition der alten Bibelhandschriften ein, von denen die weltberühmte Bibliothek zahlreiche beherbergt", sagte sie dem Schweizer Portal kath.ch. "Sie steht also in der Tradition der frühmittelalterlichen Skriptorien und ist gleichzeitig ein einzigartiges Zeitzeugnis der Spiritualität im 21. Jahrhundert", so die wissenschaftliche Assistentin am Lehrstuhl für Liturgiewissenschaft der Universität Luzern.

Corona-Bibel wird digitalisiert

In der Stiftsbibliothek wird sie noch zwei Jahre ausgestellt sein, so dass auch Menschen aus dem Ausland, die mitgeschrieben haben, irgendwann kommen und sie sehen können. Außerdem ist die St. Galler Corona-Bibel komplett digitalisiert. Auf der Website kann man nicht nur Kapitel auswählen, sondern auch das Alter der Schreibenden, die Sprache, besonders gestaltete Initial-Buchstaben, Illustrationen, persönliche Kommentare, Deckblätter oder Einbände, erläutert Gässlein. Sie selbst habe das Buch "Hiob" betreut, das nur von Frauen abgeschrieben wurde.

Trotz der genauen Vorgaben auf der Projektwebsite sei die Qualität der Buchseiten nicht gleichwertig wie das Pergament früherer Jahrhunderte, so die Theologin weiter: "Aber die ewige Haltbarkeit ist zum Glück kein Kriterium für die Aufnahme in die Stiftsbibliothek."

"Eine wirklich beglückende Erfahrung"

Für die Seelsorgerinnen und Seelsorger sei die St. Galler Corona-Bibel "eine wirklich beglückende Erfahrung", erklärt die 39-Jährige: "Mit so vielen Menschen im Kontakt zu stehen, denen die Bibel persönlich wichtig ist, die sich mit diesem Buch beschäftigen und ihre Lektüre vertiefen wollen, das war ein Kontrapunkt zu den manchmal auch frustrierenden Erfahrungen in der pastoralen Arbeit."

Als bleibende Erkenntnis des Seelsorgeteams hält sie fest: "Wir sollten alles dafür tun, um gegen das religiöse Desinteresse vorzugehen", so die katholische Theologin. Zugleich solle man den Menschen so viele Freiräume wie möglich lassen. "Die Menschen finden den Zugang zum Göttlichen selbst, in ihrer Familiengeschichte oder ihrer heute vielleicht agnostischen Weltanschauung - mit Hilfe ihrer alten Kinderbibel oder ihrer Auseinandersetzung mit zeitgenössischer Literatur." Vielleicht aber auch durch das Mitschreiben an der "Corona-Bibel".


Stiftsbibliothek St. Gallen (Stiftsbibliothek St.Gallen)
Quelle:
KNA